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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Socialismus

zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege und Morde, wie viel Elend und Greuel hätte der dem Menschengeschlecht erspart, der da die Pfähle ausgerissen oder die Gräben zugeschüttet und jenen Menschen zugerufen hätte: Hütet euch, diesem Betrüger zu glauben, ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemand." Die einflußreichsten und bedeutendsten Socialisten vor und zur Zeit der großen Französischen Revolution sind Morelly, Mably, Brissot und Babeuf.

Morelly, der Verfasser der Utopie "Naufrage des îles flottantes", war wegen dieser Schrift von der Kritik heftig befehdet worden und antwortete durch das 1755 erschienene Buch "Code de la nature", worin er das Eigentum heftig angreift, weil es die Quelle aller Laster, insbesondere des Hochmuts und des Eigennutzes sei; er verlangt eine kommunistisch organisierte Gesellschaft und stellt den Grundsatz auf: "Tout citoyen sera homme public, sustenté, entretenu et occupé aux dépens du public". Mably (s. d.) preist in seinen Werken "Doutes proposés aux philosophes - économistes sur l'ordre naturel et essentiel de sociétés publiques" (1768) und "De la législation ou principes des lois" (1776) die Vorzüge der Gütergemeinschaft. Auf den Einwand, daß das persönliche Interesse notwendig sei als Triebfeder zu emsiger wirtschaftlicher Thätigkeit, antwortet Mably mit der Lehre von der dem Menschen angeborenen Neigung zur Arbeit. J. P. Brissot de Warville bezeichnet bereits 1780, also 60 Jahre vor dem von Proudhon verfaßten Buch über das Eigentum, in seiner Schrift "Sur la propriété et le vol" das Eigentum als Diebstahl. Das Maß unserer Bedürfnisse, erklärt Brissot, muß das unsers Vermögens sein, und wenn 40 Thlr. hinreichen, um unsere Existenz zu erhalten, so ist der Besitz von 200 Thlrn. ein Diebstahl, eine Ungerechtigkeit. - Babeuf hat nicht nur während der Revolution die vollkommene Gleichheit auch des Besitzes als die einzig richtige und letzte Konsequenz der Egalität verkündet, sondern auch einen praktischen Versuch zur Verwirklichung seiner Ideen unternommen, indem er mit seinen Freunden, den "Gleichen", wie sie sich nannten, 1795 eine geheime Gesellschaft gründete zum Sturze der Direktorialregierung und zur Verwirklichung der neuen socialen Principien. Schon war alles zum Losschlagen bereit, als die Verschwörung verraten, Babeuf nebst seinen Helfershelfern verhaftet und 28. Mai 1796 hingerichtet wurde. (S. Babeuf und Buonarotti.)

Alle bisher genannten socialistischen Systeme können jedoch nur als Vorläufer des modernen wissenschaftlichen S. bezeichnet werden; dieser selbst aber ist erst um die Wende unsers Jahrhunderts zuerst in Frankreich zur Ausbildung gelangt. Von franz. Socialisten seien namentlich genannt: Saint-Simon, Fourier, Cabet, Louis Blanc und Proudhon.

Saint-Simon wies besonders, namentlich in seiner zuerst im "Organisateur" (1819) veröffentlichten Parabel auf den Gegensatz zwischen dem unproduktiven Adel und Klerus einerseits und den produktiven Ständen (Landwirtschaft, Industrie und Handel) andererseits hin. Er wollte die Arbeit im weitesten Sinne des Wortes gegenüber den auf Besitz beruhenden Privilegien als die wichtigste Quelle alles kulturellen Fortschritts betrachtet wissen. Näheres s. Saint-Simon. Seine und seiner Schüler Lehre (s. Enfantin und Bazard) ist der Saint-Simonismus (s. d.). Zins und Rente bezeichnen die Saint-Simonisten als eine Prämie, die der Eigentümer von der Arbeit anderer erhebe; das Eigentum bewirke die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Die praktischen Reformvorschläge laufen darauf hinaus, daß eine allgemeine Association aller Menschen auf der Erde angestrebt werden solle; trotzdem sollen aber die einzelnen Staaten bestehen bleiben, und diese sollen die Regelung der gesamten Produktion und Konsumtion in die Hand nehmen. Eine Centralbank soll die Verfügung über allen Boden und alle Kapitalien haben; diese Bank hat alle gewerblichen und kaufmännischen Arbeiten zu verteilen und zu beaufsichtigen und dafür zu sorgen, daß die Produktionsmittel an diejenigen übertragen werden, die sie am besten verwenden können; sie hat den Bedarf an allen Produktionszweigen zu ermitteln und danach die Produktion einzurichten. Ferner sollte die Erbschaft aufgehoben werden; jeder sollte nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen Leistungen bezahlt werden. Bemerkenswert ist noch der theokratische Charakter des Saint-Simonismus. Neben Saint-Simon hat Fourier (s. d.) großen Einfluß auf die socialistische Ideenrichtung ausgeübt; schon in seiner Erstlingsschrift "Théorie des quatre mouvements" (1808) hatte Fourier das privatwirtschaftliche System scharf kritisiert und speciell die Kaufleute und die Zwischenhändler als Ausbeuter bezeichnet. In seinen Werken finden sich geistreiche und scharfsinnige kritische Bemerkungen neben vielen Bizarrerien und ganz wirren Ausführungen. Von Fourier ist zuerst das "Recht auf Arbeit" (s. d.) in seiner heutigen Bedeutung vertreten worden. Er führt eine heftige Polemik gegen die Theorie von den angeborenen Menschenrechten in bloß polit. Beziehung, da die ökonomischen Grundrechte weit größere Bedeutung für die großen Volksmassen hätten. Im Naturzustand habe der Wilde das Recht, überall nach seinem Ermessen zu jagen, zu fischen, Früchte zu sammeln und sein Vieh zu weiden. In einem socialen Zustand, wo die Natur bereits occupiert ist, lasse sich freilich die Ausübung dieser vier ökonomischen Grundrechte nicht denken, dagegen müsse an die Stelle derselben ein Äquivalent treten. Dieses Äquivalent nennt Fourier bald Recht auf Arbeit, bald Recht auf ein Existenzminimum. In Bezug auf die praktische Reform der Gesellschaft schlägt Fourier vor, daß die Menschen in großen, gemeinsamen Häusern wohnen sollen, den sog. Phalanstères (s. d.); dort sollen nach gemeinsamem, bis ins kleinste Detail gehendem Plane alle häuslichen, gewerblichen, wissenschaftlichen und kaufmännischen Arbeiten so organisiert werden, daß die Triebe der Menschen ihre harmonische Befriedigung finden und gleichzeitig den größten Produktionsertrag versprechen. Doch soll nicht völlige Gleichheit in den Phalansterien herrschen. Vielmehr soll der Arbeitsertrag zwischen dem Kapital, der Arbeit und dem Talent geteilt werden und zwar etwa so, daß auf das Kapital 4/12, auf die Arbeit 5/12 und auf das Talent 3/12 des Gesamtertrags entfällt. Eine gute Übersicht über den Fourierismus gab sein Schüler Considérant (s. d.). Dagegen war das von Cabet angestrebte Ideal die völlige Gütergemeinschaft, die er näher in seiner Utopie "Voyage en Icarie" (1842) beschreibt. Die Icarier sollen weder Eigentum noch Geld, weder Kauf noch Verkauf kennen; sie sollen in allem gleich sein, soweit sich dies überhaupt ermöglichen läßt. Alle sollen