Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Sprachstörungen; Sprachunterricht

191

Sprachstörungen - Sprachunterricht

Gruppe eines ganzen S., z. B. indogermanischer S., dazu gehörig german., slaw. u. s. w. Sprachfamilie. Über die wissenschaftliche Behandlung des S. und die Versuche, die Sprachen der Erde zu klassifizieren, s. Sprachwissenschaft. - Sprachverwandtschaft zweier oder mehrerer Völker, ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten S. bedingt nicht notwendig deren nähere physiol. Verwandtschaft, da es oft vorgekommen ist, daß ein Volk die Sprache eines andern, ihm stammfremden, angenommen hat.

Sprachstörungen, im engern Sinne die Störungen des Vermögens, sich in Wort und Schrift korrekt zu äußern; im weitern Sinne auch die Störungen der Gebärdensprache. Die Störungen der Lautsprache betreffen teils die Artikulation, teils die Diktion. Bei den Störungen der Artikulation, die man als Alalie oder Anarthrie zu bezeichnen pflegt, leidet die Fähigkeit, die Muskelbewegungen, die zur Hervorbringung von Einzellauten, Silben und Wörtern erforderlich sind, zweckmäßig (insbesondere geordnet) auszuführen; es liegen hierbei entweder Fehler der äußern Sprachwerkzeuge (Kehlkopf, Mundhöhle u. s. w. und ihrer Muskeln) zu Grunde, oder krankhafte Zustände der zugehörigen Nerven und der Nervencentren, insbesondere des Gehirns. Bei den Störungen der Diktion leidet die Fähigkeit, für eine gegebene Vorstellung das richtige, d. i. übliche Wort zu gebrauchen sowie die betreffenden Worte grammatisch zu formen und syntaktisch zu gliedern. Hier liegt stets ein Leiden des Gehirns, insbesondere der den geistigen Verrichtungen dienenden Teile desselben vor. Störungen der Artikulation sind das Stottern, Stammeln, Lallen u. s. w. Störungen der Diktion finden sich bei den unter der Bezeichnung Aphasie zusammengefaßten Erscheinungen. Übrigens kommen auch Mischformen von schwerern Diktions- und Artikulationsstörungen vor. Besonders wichtig für die Erforschung der psychol. Vorgänge beim Sprechen sind die mediz. Erfahrungen über die verschiedenen Formen der Aphasie. Man unterscheidet hier: 1) Die amnestische Aphasie, das Unvermögen der Erinnerung an die Wörter ihrem Klange nach. Dem amnestisch Aphasischen fällt z. B. beim Anblick eines Gegenstandes das hierfür gebräuchliche Lautwort nicht ein; wird es ihm vorgesagt, so kann er es aber nachsprechen, sofern nicht noch andere S. vorliegen. 2) Die ataktische (motorische) Aphasie. Dem Kranken schweben im Bewußtsein die Wörter ihrem Laute nach richtig vor, er findet aber nicht die zur lauten Äußerung führenden willkürlichen Bewegungsimpulse. 3) Die sensorische Aphasie (Worttaubheit) besteht in dem Unvermögen, gesprochene Worte bei gutem Gehör und im allgemeinen guter Intelligenz ihrem Sinne nach zu verstehen. Die Muttersprache klingt solchen Kranken, wie dem Gesunden eine fremde Sprache, von der er gar nichts oder nur wenig gelernt hat. Aphasie hat man häufig bei Verletzung sehr wenig ausgedehnter Abschnitte der Großhirnoberfläche gefunden; insbesondere führt, wie Broca zuerst hervorgehoben, häufig die Verletzung der dritten Stirnwindung (Brocasche Windung) der linken Seite zu Aphasie. Man hat hieraus geschlossen, daß diese Windung das psychische "Centrum der Sprache" enthalte. Indes haben neuere Untersuchungen ergeben, daß nur die ataktische Aphasie annähernd regelmäßig bei Verletzung dieser Windung vorkommt, während die andern Formen der Aphasie sich häufig bei Zerstörung weit entfernter Teile des Gehirns finden (Worttaubheit bei Zerstörung der linken Schläfenwindungen). Bei linkshändigen Personen führt häufiger die Zerstörung der rechten dritten Stirnwindung zu Aphasie. Es ist demnach in der Regel nur eine Hemisphäre des Gehirns der Ausgangspunkt der beim Sprechen stattfindenden Willensimpulse. Wird diese Hemisphäre in ihren zur Sprache in näherer Beziehung stehenden Teilen zerstört (durch Blutung, Blutgefäßverstopfung, Erweichung und andere Erkrankungen), so tritt so lange Aphasie ein, bis sich die andere Hemisphäre auf die entsprechenden Funktionen eingeübt hat. So erklärt man wenigstens die Wiedererlangung des Sprachvermögens nach länger dauernder Aphasie, trotz Fortbestehens der ursächlichen Zerstörungen im Gehirn. Bei der ärztlichen Behandlung der Aphasie ist, abgesehen von den durch die Natur der Krankheit gegebenen Heilanzeigen, besonders methodischer Sprachunterricht von Bedeutung. Eine tiefere Störung der Intelligenz braucht bei Aphasie nicht vorhanden zu sein, wenn sie auch oft genug (wie andere Symptome von Hirnkrankheiten, Lähmungen u. s. w.) daneben vorkommt. Gebildete Kranke haben nach der Heilung behauptet, während ihres aphasischen Zustandes zu komplizierten geistigen Operationen fähig gewesen zu sein. Indes ist dies nur denkbar bei der ataktischen Aphasie und bei mäßigen Graden der übrigen Formen. Das abstrakte Denken leidet bei hochgradiger amnestischer und sensorischer Aphasie zweifellos not. 4) Die Paraphasie oder Paraphrasie, krankhaftes Sichversprechen, Gebrauch entstellter Worte und Wortverbindungen oder solcher, die den richtigen Sinn nicht wiedergeben.

Allen den angeführten Formen von Störungen der Lautsprache, die jede für sich allein vorkommen können, indes meist sich kombinieren, entsprechen solche der Schriftsprache. Insbesondere entspricht hier der Aphasie die Agraphie, von der man wieder eine amnestische, ataktische u. s. w. Form unterscheidet. Die Unfähigkeit, bei gesunden Augen und guter Intelligenz Geschriebenes dem Sinne nach zu verstehen, wird als Schriftblindheit (sensorische Agraphie) bezeichnet. Die Störungen der Laut- und Schriftsprache können unabhängig voneinander vorkommen; die Fähigkeit zu schreiben ist also unabhängig von der zu sprechen, so daß auch für beide getrennte seelische Apparate vorhanden sein müssen.

Vgl. Kußmaul, Die Störungen der Sprache (3. Aufl., Lpz. 1885); Sachs, Vorträge über Bau und Thätigkeit des Großhirns und die Lehre von der Aphasie und Seelenblindheit (Bresl. 1893); Gutzmann, Vorlesungen über die Störungen der Sprache (Berl. 1893); Treitel, Grundriß der S. (ebd. 1894); Medizinisch-pädagogische Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde, hg. von A. und H. Gutzmann (Berl. 1891 fg.).

Sprachunterricht, die schulmäßige Anleitung zur Erlernung fremder Sprachen und zum richtigen Gebrauch der Muttersprache. In der Volksschule handelt es sich zunächst nur um den Unterricht in der Muttersprache. Dieser hat den Zweck, die Schüler zu befähigen, die Muttersprache mündlich und schriftlich geläufig und richtig zu gebrauchen und in ihr Niedergeschriebenes und Gesprochenes zu verstehen. Dazu soll überhaupt aller Unterricht beitragen; doch sind im Lehrplane besondere Stunden als "deutsche Stunden" bezeichnet. Sie umfassen Lesen und Behandlung von Lesestücken, Übungen im mündlichen Ausdruck und Vortrage, orthographische und