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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Sprachwissenschaft

ben, soweit man sich überhaupt mit Sprachstudien befaßte, die aus dem Altertum überkommenen Anschauungen maßgebend. Auch die Wiederbelebung der klassischen Studien im Abendlande seit dem 14. Jahrh. brachte keine irgend wesentliche Förderung. Erst im 19. Jahrh. begann ein gewaltiger Aufschwung, dem durch verschiedene Ereignisse der vergangenen Zeiten wirksam vorgearbeitet war, vor allem durch die Ausbreitung des Christentums, die uns die Kenntnis der verschiedensten Sprachen der Welt zuführte (Bibelübersetzungen). Auch darf nicht vergessen werden, daß schon in den frühern Jahrhunderten einzelne, wie Joseph Justus Scaliger (s. d.) und Leibniz (s. d.), in mehrere, bis dahin unerkannte sprachgeschichtliche Thatsachen geniale Einblicke gethan hatten, die von der Mitwelt kaum beachtet und bald wieder gänzlich vergessen wurden. Ein größeres Interesse für Sprachforschung und auch die ersten bedeutendem Anfänge der neuen Richtung zeigen sich im Laufe des 18. Jahrh., namentlich in der letzten Hälfte. Man begann Wörtersammlungen und Sprachproben aus möglichst vielen Sprachen anzulegen, z. B. Sammlungen von Übersetzungen des Vaterunsers. Dahin gehört das von Katharina II. veranstaltete allgemeine Wörterbuch ("Linguarum totius orbis vocabularia comparativa", 4 Bde., Petersb. 1790-91), Adelungs "Mithridates" (fortgesetzt von Vater, 4 Bde., Berl. 1806-17). Da diese Sammlungen ohne richtigen Begriff von Sprachverwandtschaft nach dem zufällig vorhandenen Material gemacht sind, haben sie jetzt nur als Stoffsammlungen Wert. Während man so einerseits rein äußerlich zusammenstellte, suchte man andererseits bereits die höchsten Fragen bezüglich der Sprache Zu lösen. Dahin gehört vor allem die Frage nach dem Ursprunge der Sprache (s. d.).

Herders Schrift "Über den Ursprung der Sprache" (Berl. 1772; neue Ausg. 1789), die bedeutendste des 18. Jahrh. über diesen Gegenstand, obwohl sie die Erfindung der Sprache durch den Menschen verwirft, bleibt in der mechan. Anschauung doch zur Hälfte stecken; denn Herder läßt nur die einzelnen Wörter instinktiv aus dem Innern des Menschen hervorgebrochen sein, während die Verbindung zu Sätzen und die Herstellung der den Wörtern anhaftenden Beziehungslaute von Grammatikern erfunden sein soll. Die Schrift übte auf den Betrieb der sprachwissenschaftlichen Studien geringen Einfluß. Es mußte von außen her ein Ereignis kommen, um die europ. Sprachforschung aufzurütteln und in die richtige Bahn zu bringen. Dieses Ereignis war das Bekanntwerden der Sprache und Litteratur der alten Inder (s. Sanskrit). In doppelter Richtung brachte die Erschließung dieser Sprache einen bedeutenden Fortschritt. Erstlich führte sie zur Erkenntnis der Verwandtschaftsverhältnisse der indogerman. Sprachen (s. Indogermanen). Man begriff jetzt, daß es enge Zusammenhänge zwischen Völkern geben könne, die in histor. Zeit gar nicht oder nur in geringem Maße in Berührung gekommen sind. Es that sich der vorgeschichtliche Hintergrund auf. Das Ursprüngliche suchte man jetzt nicht mehr in dem Sprachmaterial der histor. Perioden, sondern in der den verschiedenen verwandten Sprachen zu Grunde liegenden gemeinsamen Ursprache. Damit war für immer festgestellt, daß man, um die Erklärung für die Entstehung der Sprachformen zu gewinnen, stets die ältern und ältesten Sprachzustände zu Rate zu ziehen habe. Der zweite Fortschritt bestand darin, daß man in den Werken der ind. Nationalgrammatiker eine Weise der Sprachbetrachtung kennen lernte, die in mehrern Beziehungen die damalige europäische S. bedeutend überragte. Vieles, was die Inder über ihre Sprache lehrten, ließ sich, bei dem gleichartigen Bau aller indogerman. Sprachen, ohne weiteres auf die Schwestersprachen übertragen. So entstand jetzt die sog. vergleichende S., die vorzugsweise durch F. Bopp (s. d.) ins Leben gerufen wurde, von dessen Schrift "Das Konjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griech., lat., pers. und german. Sprache" (Frankf. a. M. 1817) man den Beginn dieser Wissenschaft zu datieren pflegt. Kein Sprachstamm ist bis jetzt so genau erforscht wie der indogermanische, und auf keinem Gebiet der gesamten Sprachforschung sind die Untersuchungsmethoden so fein ausgebildet wie hier. Unter "vergleichender S." versteht man gewöhnlich nur die indogermanische S. Da aber alle Sprachforschung vergleichend ist, so ist jene Bezeichnung unpassend, und es bürgert sich allmählich der Name "Indogermanische S." dafür ein.

Während Bopp und seine Nachfolger mit wenigen Ausnahmen (z. B. Pott, s. d.) sich auf die Durchforschung der indogerman. Sprachen beschränkten, wurde W. von Humboldt (s. d.) der Begründer der neuern allgemeinen S., vorzugsweise durch sein Werk "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues" (Berl. 1836; besonderer Abdruck aus dem Werke über die Kawisprache; neu herausgegeben mit ausführlicher Einleitung von Pott, 2 Bde., ebd. 1876; Nachträge 1880; und von Steinthal, "Die sprachphilos. Werke Wilhelms von Humboldt", ebd. 1884). Für Humboldt ist die Spräche nicht ein totes Mittel, ein Werkzeug, das zur Bezeichnung der Dinge verwandt wird, sondern sein erster und wichtigster Satz ist: "Die Sprache ist das bildende Organ der Gedanken", d. h. es giebt keinen Gedanken ohne Sprache, und das menschliche Denken wird erst durch die Sprache. Darin liegt zugleich, daß die Sprache nichts weiter ist als die immer wiederholte Thätigkeit des Geistes, den Laut zum Ausdruck des Gedankens zu machen. Die besondere Art, wie sich diese Sprachthätigkeit im einzelnen offenbart, beruht auf der Geisteseigentümlichkeit der einzelnen Völker. Jedes Volk drückt in seiner Sprache die besondere Art aus, wie es die Dinge der Außenwelt auffaßt; die Sprache ist, wie Humboldt sagt, eine Weltansicht. Damit war zugleich gesagt, daß die Einsicht in den Bau der Sprache uns in das innerste Wesen eines Volks blicken läßt.

Auf den Bau der Sprachen gründete Humboldt ihre Einteilung, der er dadurch zuerst eine wissenschaftliche Grundlage gab. Die S. ging seit Humboldt bei der Anordnung der vorhandenen Sprachen in ein System meist von der Form des Wortes aus (morphologische Einteilung). In jedem sprachlichen Element lassen sich zwei Momente unterscheiden: der Laut, gleichsam das Material, aus dem das Wort gebaut ist, und die Bedeutung dieses Lautes. Die Bedeutung nun zerfällt wieder in zwei Momente, Bedeutung im engern Sinne und Beziehung. So drückt z. B. im lat. Worte est (er ist) der Laut es die Bedeutung des Seins überhaupt aus, der Laut t aber giebt die Beziehung auf die dritte Person. Der Lautkomplex, welcher die Bedeutung im engern Sinne angiebt, heißt die Wurzel, die übrigen Laute Beziehungslaute. Die besondere Art, wie Beziehung und Bedeutung ausgedrückt