Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

10

Turnen

besteht seit 1863 eine Turnlehrerbildungsanstalt, der bis August 1890 O. Jäger vorstand. Dieser machte sich zunächst einen Namen durch seine Preisschrift "Die Gymnastik der Hellenen" (Eßling. 1857). Durch seine "Turnschule für die deutsche Jugend" (Lpz. 1861) und "Neue Turnschule" (Stuttg. 1876) strebt derselbe die Gründung eines besondern Systems an, bei welchem das Gerätturnen bis zum 14. Jahre der Schüler zurückzuhalten sei, dafür aber Eisenstab-, Hantel- und Ordnungsübungen sowie die Übungen eines deutschen Pentathlon, bestehend in Lauf, Sprung, Weitwurf, Zielwurf und Ringen, vorzunehmen seien. Da das T. die Wehrhaftmachung des Volks als Ziel habe, so müsse alles militär. Charakter zeigen. Außerhalb Württembergs haben diese Anschauungen wenig Anklang gefunden, nur die durch Jäger herbeigeführte Bereicherung der Stabübungen hat allgemeine Aufnahme erlangt. Nachfolger Jägers wurde Fritz Keßler. Än der 1869 begründeten Turnlehrerbildungsanstalt zu Karlsruhe wirkt A. Maul (s. d.) und in der in München 1872 eröffneten G. H. Weber. In den höhern Schulen ist jetzt das T. in ganz Deutschland und Österreich so gut wie allgemein eingeführt, auch schon in vielen städtischen Knabenschulen findet es sich vor, wenn auch nicht immer die Einrichtungen befriedigender Art sind; selbst mit dem Mädchenturnen haben eine beträchtliche Anzahl Städte den Anfang gemacht, dagegen ist man mit der Einführung des T. in den Dorfschulen meist noch sehr zurück. Der Aufschwung des Schulturnens in den vierziger Jahren veranlaßte in vielen Orten die Gründung von Turnvereinen, besonders günstig waren hierfür die J. 1817 und 1818. Gleichzeitig mischten sich jedoch in jener aufgeregten polit. Zeit in die Vereine polit. Elemente hinein. Daher fegte die in den fünfziger Jahren herrschende Reaktion viele Vereine hinweg, so daß 1860 von den mehr als 300 Vereinen des Jahres 1819 kaum noch der dritte Teil vorhanden war.

Das erste Deutsche Turnfest in Coburg 1860 brachte einen Umschwung, und seitdem ist das Vereinswesen stetig weiter gewachsen. Im ganzen fanden bisher acht deutsche Turnfeste statt: in Coburg 16. bis 19. Juni 1860, in Berlin 10. bis 12. Aug. 1861, in Leipzig 2. bis 4. Aug. 1863, in Bonn 3. bis 6. Aug. 1872, in Frankf. a. M. 21. bis 28. Juli 1880, in Dresden 18. bis 22. Juli 1885, in München 28. bis 31. Juli 1889, in Breslau 21. bis 25. Juli 1891. Über die gegenwärtigen Turnvereinsverhältnisse s. Turnerschaft. Das Wiederaufblühen des Turnvereinslebens wirkte in vielen Orten befruchtend auf die Einführung und Entfaltung des T. in den Schulen. Gleichzeitig blieb hierbei nicht ganz ohne Einfluß die Bildung von Orts- und Landes- (Provinzial-) Turnlehrervereinen zwecks gegenseitiger Anregung und gemeinschaftlicher Weiterbildung des Turnlehrfaches sowie öffentlicher Erörterung turnerischer Fragen. In gleicher Weise geschah dies auch durch die bisher abgehaltenen 12 deutschen Turnlehrerversammlungen. Auf der letzten derselben (Hof 1893) fand die Gründung eines deutschen Turnlehrervereins statt, der "die Hebung des Schulturnens und die Herstellung des richtigen Verhältnisses zwischen Geistes- und Körperpflege in der Schule bezweckt". Die eigenartige Gestaltung des Mädchenturnens ließ es als zulässig erscheinen, diesen Unterricht durch besonders vorzubildende Lehrerinnen erteilen zu lassen. Zu diesem Behufe erhalten schon seit Jahren auch Lehrerinnen in den Turnlehrerbildungsanstalten entsprechende Unterweisungen. Bei Einführung des T. durch Jahn waren es auf den Universitäten besonders die Burschenschaften, die dasselbe eifrig betrieben. Während der Turnsperre fristete sich das T. in einzelnen Hochschulen mühsam hin, auch in den folgenden beiden Jahrzehnten fand es in Studentenkreisen wenig Anhänger. Erst mit dem Aufschwunge in den sechziger Jahren erwachte auch hier neues Leben und bildeten sich akademische Turnvereine (s. d.).

Zur Erreichung der gestellten Ziele werden beim Unterricht Freiübungen (s. d.), Ordnungsübungen (s. d.), Spiel (s. d.) und Gerätübungen (s. d.) getrieben, zu welchen sich noch das Ringen (s. d.) und die Turnfahrten, d. h. Dauermärsche in die Umgegend, gesellen. Bei Benutzung des vorhandenen reichen Übungsstoffes ist sowohl auf die Alters- als auch auf die Geschlechtsunterschiede, auf die geistige Fassungskraft und die körperliche Beschaffenheit der Übenden eingehend Rücksicht zu nehmen. Demzufolge kennt die neuere Unterrichtsmethode, gleichzeitig damit den Charakter der besondern Turnart hervorhebend, ein Knaben-, ein Mädchen- und ein Männerturnen. Insbesondere ist zu Gunsten des Mädchenturnens, dem vielfach noch konventionelle Vorurteile entgegenstehen, zu sagen, daß es allgemeine Muskel- und Nervenschwäche, Bleichsucht, Wachstumsfehler, Engbrüstigkeit, Verkrümmungen der Wirbelsäule, die den Mädchen besserer Stände bei vorwiegend sitzender Lebensweise und massenhaften Unterrichtsstunden drohen, wirksam zu verhüten vermag; eine harmonische kraftvolle Ausbildung des Körpers befähigt aber erst das Weib zu ihren schweren Pflichten als Gattin und Mutter. Da für die Armee die Turnübungen besonders begrenzt sind und bei deren Ausführung, infolge der Vorschrift, daß "nie von dem Wege strengster militär. Zucht und Ordnung abzuweichen sei", bestimmte militär. Gepflogenheiten zu Tage treten, so spricht man auch von einem Militärturnen. Durch die Bestrebungen der Turnlehrer Kluge in Berlin (gest. 1882), Zettler in Chemnitz u. a. ist die Konstruktion der Turngeräte wesentlich vervollkommnet worden.

Aus der reichen Litteratur sind hervorzuheben: 1) Allgemeines und Geschichtliches: Lange, Die Leibesübungen (Gotha 1863); Brendicke, Grundriß zur Geschichte der Leibesübungen (Cöthen 1882); Iselin, Geschichte der Leibesübungen (Lpz. 1886); C. Euler, Geschichte des Turnunterrichts (Gotha 1891); ders., Encyklopäd. Handbuch des gesamten Turnwesens und der verwandten Gebiete (3 Bde., Wien 1893-96); Hirth, Das gesamte Turnwesen (2. Aufl. durch Gasch, Hof 1893; Ergänzungsband 1895); F. A. Schmidt, Die Leibesübungen nach ihrem körperlichen Übungswert (Lpz. 1893); Rühl, Entwicklungsgeschichte des T. (ebd. 1895). 2) Methodisches: Heeger, Anleitung für den Turnunterricht in Knabenschulen (2 Tle., Lpz. 1880); Zettler, Methodik des Turnunterrichts (2. Aufl., Berl. 1881); Hausmann, Das T. in der Volksschule (1. Aufl., Weim. 1882); Maul, Anleitung für den Turnunterricht an Knabenschulen (3 Tle., Tl. 1, 3. Aufl., Karlsr. 1883; Tl. 2, 5. Aufl. 1895; Tl. 3, 2. Aufl. 1888); Zettler, O. Schettlers Turnschule für Knaben (2 Tle., 2. und 3. Aufl., Plauen 1883 u. 1895); Maul, Der Turnunterricht in Mädchenschulen (4 Tle., Tl. 1 in 2. Aufl., Karlsr. 1885-92); G. H. Weber, Grundzüge des Turn-^[folgende Seite]