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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Wilhelm Ⅰ. (Deutscher Kaiser und König von Preußen)

gaben immer nur provisorisch oder gar nicht. So entstand, da der Prinz nicht nachgab und die Reorganisation zur vollendeten Thatsache machte, ein mehrjähriger Konflikt zwischen Regierung und Kammer.

Inzwischen war Friedrich Wilhelm Ⅳ. 2. Jan. 1861 gestorben; W. bestieg den Thron und hob bei seiner Krönung in Königsberg 18. Okt. 1861, gemäß seiner stets festgehaltenen Überzeugung, das «Königtum von Gottes Gnaden» scharf hervor. Das Attentat des Studenten Oskar Becker, der 14. Juli 1861 den König in Baden-Baden durch einen Pistolenschuß leicht verwundete, zeigte den starken Haß der revolutionären Elemente gegen W. Der Verfassungskonflikt spitzte sich 1862 dermaßen zu, daß die Minister ohne ein Nachgeben des Königs die Geschäfte nicht weiter führen zu können glaubten. Davon aber, daß der König sein eigenes Werk gegen seine bessere Überzeugung wieder rückgängig machte, war bei seiner Charakterfestigkeit keine Rede. Er war schon bereit, lieber abzudanken, als ihn die entschiedene Erklärung Bismarcks, der zur Übernahme der Geschäfte nach Berlin berufen worden war, daß er den Kampf mit der Mehrheit des Abgeordnetenhauses durchführen werde, wieder aufrichtete. Nach der Ernennung Bismarcks zum Vorsitzenden des Staatsministeriums und zum Minister des Auswärtigen verschärfte sich zwar der innere Konflikt, aber die deutsche Politik W.s nahm immer deutlichere Umrisse an. Es folgte die Ablehnung der Teilnahme an dem Frankfurter Fürstenkongreß 1863 seitens W.s, die Verwerfung des österr. Reformprojekts und die Eröffnung des Deutsch-Dänischen Krieges von 1864. Der Beschluß der Bundesversammlung vom 14. Juni 1866 auf Mobilmachung des Bundesheeres mit Ausnahme der preuß. Kontingente machte den schon mehrmals hinausgeschobenen Bruch mit Österreich unwiderruflich. Der Krieg begann. König W. übernahm 2. Juli in Jičin den Oberbefehl und siegte 3. Juli bei Königgrätz. Nach Abschluß der Friedenspräliminarien von Nikolsburg traf er 4. Aug. wieder in Berlin ein. Der Konflikt mit der neu gewählten Kammer wurde durch die Indemnitätsvorlage gelöst, der Friede zwischen König und Volk wiederhergestellt. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 24. Juni 1867 gab W. das Präsidium desselben und damit die militär. und polit. Führung der norddeutschen Staaten; durch Allianzverträge mit den süddeutschen Fürsten erhielt er auch den Oberbefehl über die süddeutschen Kontingente.

Im Juli 1870 tauchte die hohenzollernsche Thronkandidatur auf. Die Kriegslust der bonapartistisch-klerikalen Partei in Frankreich, die Zumutungen des franz. Kabinetts und des franz. Gesandten Benedetti im Bad Ems (9. bis 14. Juli) an König W. machten diesem die Erhaltung des Friedens unmöglich. Am 19. Juli, dem Tage der Überreichung der franz. Kriegserklärung, erneuerte er die Stiftung des Eisernen Kreuzes. Am 31. Juli reiste er, indem er gleichzeitig eine Amnestie für polit. Verbrechen erließ, von Berlin ab und übernahm in Mainz 2. Aug. den Oberbefehl über die gesamte deutsche Armee. Am 11. Aug. überschritt er die franz. Grenze, befehligte persönlich in den Schlachten bei Gravelotte (18. Aug.) und bei Sedan (1. Sept.) und hatte mit Napoleon Ⅲ. eine kurze Unterredung in dem Schlößchen Bellevue (2. Sept.). Vom 5. Okt. 1870 bis 7. März 1871 hatte er sein Hauptquartier in Versailles. Die feierliche Proklamierung des Deutschen Reichs fand 18. Jan. 1871 in dem Spiegelsaale des Versailler Schlosses statt. In der bei dieser Feier verlesenen Proklamation «An das deutsche Volk» nahm König W. auf den einmütigen Ruf der deutschen Fürsten und Freien Städte für sich und seine Nachfolger an der Krone Preußen die deutsche Kaiserwürde an, im Gedanken, «allzeit Mehrer des Deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung».

Am 2. März unterzeichnete er den Präliminarfrieden und traf 17. März wieder in Berlin ein. Er eröffnete 21. März den ersten Deutschen Reichstag und hielt 16. Juni an der Spitze seiner siegreichen Truppen den glänzendsten Einzug in Berlin. Mit nicht leichtem Herzen ging er in den ersten Friedensjahren nun in einen neuen schweren innern Kampf gegen die klerikale Partei. Entschieden würdevoll wies er Zumutungen des Papstes Pius Ⅸ, die einen Eingriff in seine religiösen Überzeugungen bedeuteten, zurück, in dem Schreiben vom 3. Sept. 1873. Dem neuen Papst Leo ⅩⅢ., welcher Friedensverhandlungen einleitete, antwortete er 24. März 1878 und (in seinem Namen) der Kronprinz 10. Juni 1878, daß ein wahrer Friede nur auf Grundlage der Anerkennung der Staatsgesetze seitens der kath. Geistlichkeit möglich sei, daß aber auch er bereit sei, friedliebend und versöhnlich nach einem Ausgleich zu streben.

Der Sicherung des äußern Friedens diente nicht in letzter Linie das Ansehen, welches Kaiser W. selbst im Auslande genoß, und die intimen Beziehungen, die er mit den mächtigsten auswärtigen Monarchen unterhielt. Bei seiner Zusammenkunft mit dem Kaiser Franz Joseph von Österreich in Ischl und Salzburg 1871 wurde die Feindschaft von 1866 beigelegt und die alte Freundschaft erneuert. Durch die Dreikaiserzusammenkunft in Berlin 5. bis 11. Sept. 1872 (s. Dreikaiserbund) wurde die Übereinstimmung der drei Monarchen von Preußen, Österreich und Rußland in allen großen Fragen der Politik konstatiert und die leitenden Grundsätze für die Zukunft festgestellt. An diese Zusammenkunft knüpften sich 1873 Besuche des Kaisers W. in Petersburg und in Wien und des Königs von Italien in Berlin. Den Besuch des letztern erwiderte Kaiser W. 18. Okt. 1875 in Mailand. Daß der Russisch-Türkische Krieg von 1877 und 1878 nicht zu einem russ.-engl. Konflikt, sondern zum Berliner Friedensvertrag vom 13. Juli 1878 führte, war wesentlich den Vermittelungsbemühungen W.s zu verdanken.

Den innern Angelegenheiten des Reichs, den Verhandlungen des Reichstags und preuß. Landtags schenkte er die lebhafteste Aufmerksamkeit. Auch beteiligte er sich regelmäßig an den jährlichen Truppenmanövern in Nord- und Süddeutschland. Bei W.s persönlicher Liebenswürdigkeit, Bescheidenheit und Pflichttreue rief es um so größere Entrüstung hervor, als 11. Mai 1878 der Klempnergeselle Max Hödel, genannt Lehmann, in Berlin zwei Revolverschüsse auf den Kaiser abfeuerte. Der Kaiser blieb unverletzt, der Thäter wurde ergriffen und 16. Aug. enthauptet. Kurz darauf, 2. Juni, wurden aus einem Fenster des zweiten Stockwerkes des Hauses Nr. 18 Unter den Linden abermals zwei Schüsse auf den Kaiser abgefeuert und dieser durch mehrere Schrotkörner und Rehposten im Gesicht, an den Armen und an andern Körperteilen verwundet. Der