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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Agrarfrage (Ursachen der Agrarkrisis)

Wirtschaften übernommen oder gepachtet hatten, also zu Preisen, welche sich für die nachfolgenden ungünstigen Konjunkturen als zu hoch erwiesen. Dieselben kamen in um so größere Bedrängnis, als sie oft genug in Erwartung einer Fortdauer der steigenden Tendenz in der Bewegung der Produktenpreise und der Rente höhere Boden- und Pachtpreise gewährt hatten, als den jeweiligen Ertragsverhältnissen entsprach.

Verschärft wurde die Lage, wenigstens auf einem großen Teil des europ. Kontinents, dadurch, daß die Verschuldung der Landgüter seit Durchführung der Bodenmobilisierung meistens, wenn auch in verschiedenem Grade, in ständiger Zunahme begriffen war, was teils aus zu geringen Anzahlungen bei der käuflichen Übernahme und bei Erbteilungen, teils aus andern Ursachen, wie Meliorationen, Konsumtionsaufwänden u. s. w., herrührte. Die wachsende Last wurde leicht getragen, solange die Entwicklung der Rentabilität im Fortschreiten begriffen war. Sie wurde zu einer um so größern Gefahr für die Besitzer, je stärker der Rückgang der Rente wurde. Die ungünstige Lage der Landwirtschaft wurde schließlich in wachsendem Umfange selbst die Ursache einer weitern Schuldenzunahme. Die Entlastung infolge des sinkenden Zinsfußes vermochte den Rückgang der Renten nur zum kleinern Teile aufzuwiegen. Nicht wenig trug zur Verschlimmerung der Schuldverhältnisse die mangelhafte Kreditorganisation bei, infolge deren auf dem Gebiete des Realkredits die private kündbare Hypothekenschuld durchaus vorherrschte, der Personalkredit aber überhaupt unentwickelt geblieben war.

Die Ursache des zunehmenden Rückganges der Agrarproduktpreise liegt zweifellos in erster Linie in der gewaltigen Entwicklung des Transportwesens, insbesondere in dem schnell fortschreitenden Ausbau des Eisenbahnnetzes in allen in den Kreis der modernen Kulturwelt einbezogenen Ländern der Erde, in der rapiden Entwicklung des Dampfschiffverkehrs und der Herstellung wichtiger Kanäle, vor allem des Sueskanals. Die hierdurch sowie durch die mit der Entwicklung des Transportwesens in engster Verbindung stehende Vervollkommnung der Handelstechnik herbeigeführte außerordentliche Verbilligung des Warenbezuges und der Warenlieferung aus der Ferne, welche den Waren um so mehr zu statten kommt, je voluminöser sie sind, gestaltete den Verkehr mit agrarischen Massenprodukten, der bis dahin an verhältnismäßig enge Grenzen gebunden war, in kurzem zu einem den ganzen Erdkreis umspannenden Welthandel. Die verbindende Kraft der weit ausgreifenden Handels- und Transportverhältnisse ermöglichte es, daß die großen, bisher ungenügend ausgenützten Vorräte weit entfernter alter Wirtschaftsgebiete sowie der überschüssige Bodenreichtum überseeischer, bis dahin schwach besiedelter Kolonialländer den Märkten des dichtbevölkerten industriereichen westlichen und mittlern Europas sich zur Verfügung stellten, und daß die Agrarprodukte jener Gebiete in immer schärfere, Konkurrenz mit denjenigen der näher gelegenen Landstriche traten, welche bis dahin diese Märkte ausschließlich versorgt und beherrscht hatten. Die Folge war eine größere Ausgleichung der Vorräte und der Preise zwischen den verschiedenen Märkten. Indem die einzelnen Märkte mehr und mehr wechselseitig voneinander abhängig wurden, hörte die Versorgung und die Preisbildung des einzelnen Marktes auf, durch den Ernteausfall des umliegenden Produktionsgebietes bestimmt zu werden, vielmehr gerieten sie immer mehr unter den herrschenden Einfluß der jeweiligen Konjunkturen des ganzen Weltmarktes. Umstände verschiedener Art, teils enorm niedrige Löhne oder niedrige Lebenshaltung der Produzenten, teils niedrige Bodenpreise und Jungfräulichkeit des Bodens, in Verbindung damit extensiver Betrieb sowie umfassende Verwendung von Maschinen auf ausgedehnten Betriebsflächen, welche selbst den Nachteil hoher Löhne in weitem Maße ausglich, vielfach sogar umfangreicher Raubbau ermöglichten es den neuen Konkurrenten, die einheimischen Landwirte trotz der relativ bedeutenden Transport- und Handelsspesen auf den west- und mitteleurop. Märkten in einem Maße zu unterbieten, daß diese auf der bisherigen Grundlage immer weniger die Konkurrenz zu bestehen vermochten.

Zunächst bemächtigte sich der Welthandel desjenigen Produkts, welches die größte Transportfähigkeit besitzt, des Getreides, worunter die Hauptrolle der Weizen spielt, als das wichtigste und am meisten verbreitete Brotgetreide. Daneben bildet Roggen einen Haupthandelsartikel fast nur im Verkehr zwischen Deutschland und Rußland, indem letzteres in zunehmender Ausdehnung mit seinen Überschüssen den mit wachsender Bevölkerung sich vergrößernden Fehlbedarf Deutschlands in erster Linie deckt. Dagegen beanspruchen größere Bedeutung im gesamten Weltverkehr Gerste und Hafer, die zwar gegenüber dem fast die Hälfte aller Exporte umfassenden Artikel Weizen und Weizenmehl noch zurücktreten, aber mit immer steigenden Prozentsätzen am Gesamtumsatze teilnehmen. Mais behauptet zwar die nächste Stelle nach dem Weizen, bereitet aber dem europ. Getreide nur indirekte Konkurrenz. Später als beim Getreide kam der Wettbewerb beim Vieh und bei den tierischen Produkten zur Entwicklung. Die überseeische Einfuhr von lebendem Vieh, die sich in der Hauptsache auf die Einfuhr von Rindern beschränkt, setzte in der Mitte der siebziger Jahre ein. Aber obwohl im Verkehr zwischen England und dem amerik. Kontinent zu erheblicher Entwicklung gelangt, bleibt sie doch weit zurück hinter dem gewaltigen Aufschwung, welchen der vorher schon aufgenommene Verkehr mit tierischen Produkten erlangte. Zur vollen Entwicklung reifte dieser Verkehr erst heran, seitdem man mittels Einrichtung großer Kühlräume das frische Rind- und Hammelfleisch in gefrorenem Zustande über See zu transportieren lernte.

Unter den Getreideexportländern stehen die Vereinigten Staaten von Amerika und Rußland im Vordergrunde. Ihnen folgen nach der Größe der Exportziffern die Balkanstaaten. Eine rapid steigende Bedeutung hat in allerjüngster Zeit Argentinien gewonnen, während die ostind. Zufuhren, die eine Zeit lang eine erhebliche Rolle auf dem Getreidemarkte spielten, in den letzten Jahren wieder abnahmen. Weiter kommen Ungarn, Canada, Australien und Afrika in Betracht. Noch vor dem Bürgerkriege und während desselben war der nordamerik. Kontinent für den internationalen Getreidehandel ohne jede Bedeutung. Aber bald nach Beendigung jenes Krieges begannen die Vereinigten Staaten infolge des Ausbaues ihres großartigen Eisenbahn- und Kanalnetzes und der hiermit in Verbindung stehenden Erschließung und schnellen Besiedelung