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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Agrarfrage (Ursachen der Agrarkrisis)

durch keinerlei handelspolit. Beschränkungen abgeschwächt wurde. Nur in der Form seuchenpolit. Maßregeln, welche die sofortige Abschlachtung des importierten lebenden Viehs in den Einfuhrhäfen des Landes erzwingen, ist der einheimischen hochwertigen Viehzucht ein gewisser Schutz gegen die auswärtige Konkurrenz gewährt worden. Zur Zeit deckt England seinen Weizenbedarf nur noch höchstens zu einem Drittel mit dem Produkt der eigenen Ernte, das übrige liefert ihm das Ausland. Wenn auch für die übrigen Getreidesorten, ausgenommen Mais, die Verhältnisse der Bedarfsdeckung für England günstiger liegen als beim Weizen, insofern noch der größere Teil der benötigten Erntemenge im Lande selbst gebaut wird, so wird doch die größere Hälfte des gesamten Kornbedarfs aus dem Auslande zugeführt, und zwar Gerste und Hafer vornehmlich aus Rußland. Aber auch für die Deckung seines Bedarfs an Fleisch und andern tierischen Produkten ist England in außerordentlich hohem und immer noch steigendem Grade auf das Ausland angewiesen. Von dem Gesamtbedarf an Rindfleisch wurden 1890 schon 36 Proz., von Hammel- und Lammfleisch 25 Proz., an Schweinefleisch sogar mehr als 50 Proz. durch das Ausland geliefert. In Molkereiprodukten (Butter und Käse) kommt die Einfuhr, an der Dänemark und Holland hervorragend beteiligt sind, annähernd der inländischen Produktion gleich.

Großbritannien zunächst stehen nach Größe der Getreideimporte Frankreich und Deutschland, jedoch mit stark schwankenden Beträgen. Ihnen folgen Belgien und die Niederlande; neuerdings gewinnt auch Italien in dieser Beziehung größere Bedeutung. 1893/94 führten Getreide aller Art ein in Tausenden Quarters (zu 2,9078 hl):

Großbritannien u. Irland 43706

Deutschland 18882

Frankreich 17406

Niederlande 10022

Belgien 8831

Italien 2803

Deutschland insbesondere deckt seinen Gesamtbedarf an Getreide zu einem Fünftel bis zu einem Siebentel aus dem Auslande, und zwar in erster Linie durch russ. Zufuhren. Nur für Weizen behaupten gegenüber Rußland Argentinien und die Vereinigten Staaten von Amerika den Vorrang, für Mais und Dari die Vereinigten Staaten von Amerika und Rumänien. Von dem steigenden überseeischen Import von lebendem Vieh in Europa ist Deutschland direkt bisher wenig berührt worden, obwohl seine Einfuhr in fortwährendem Wachsen begriffen ist, wohl aber indirekt, insofern es den vorteilhaften engl. Markt für den Absatz seiner Produkte mehr und mehr verloren hat. Die Hauptbezugsquellen für lebendes Vieh sind Österreich-Ungarn und Dänemark. Die Einfuhr von Fleischprodukten aus Amerika und Australien hat auf dem europ. Kontinent bisher keine schwerwiegende Bedeutung erlangt. In Deutschland speciell wurde sie in Bezug auf amerik. Produkte durch ein von 1883 bis 1891 dauerndes Verbot gehemmt.

Diese ganze Entwicklung der Weltmarktverhältnisse mußte notwendig einen starken Druck auf die Preise der europ. Märkte ausüben. Am stärksten wurde dieser in dem freihändlerischen England fühlbar, das dem Anprall in erster Linie ausgesetzt war, während auf dem europ. Kontinent zunächst die Preise mehr indirekt durch Rückwirkung als direkt betroffen wurden. Hatte England dis dahin die höchsten Getreidepreise verzeichnet, so erlangte es nunmehr unter dem Ansturm der überseeischen Konkurrenz die niedrigsten. Am meisten verspürten den Druck die Weizenpreise. Sie sanken von 83 sh 11 d für das Quarter von 220 kg im Durchschnitt der J. 1801-10 und 54 sh 7 d während der J. 1851-60 allmählich bis auf 31 sh 11 d im J. 1890, was einem Preise von 143,5 M. pro Tonne entspricht, um später sogar auf 108 M. pro Tonne im J. 1895 weiter zu fallen. Weit weniger intensiv machte sich der Rückgang der Preise bei Gerste und Hafer geltend, obschon auch für diese Getreidearten die Preise erheblich und in fortschreitendem Maße fielen. Mit 1883 begannen auch die Viehpreise allmählich zu weichen. Es wurden notiert auf dem Londoner Markt durchschnittlich per Stein von 8 Pfund lebend:

Jahre Rindvieh geringste Qualität sh d beste Qualität sh d Hammel geringste Qualität sh d beste Qualität sh d Schweine geringste Qualität sh d beste Qualität sh d

1883 4 3 6 1 5 6 7 3 4 0 4 9

1889 2 4 4 10 3 9 6 4 2 6 4 5

Übereinstimmend mit den englischen bewegten sich die Getreidepreise auf den kontinentalen Märkten, nur daß sie hier in den Haupteinfuhrländern Frankreich und Deutschland sich im allgemeinen um den Betrag der hier eingeführten oder erhöhten Zolle über dem Niveau des Londoner Marktes hielten. Während in Berlin der Weizenpreis 1879-83 durchschnittlich noch mit 205,08 M. pro Tonne notiert wurde, sank er trotz einer vorübergehenden Erhöhung im J. 1891 bis zum J. 1894 auf 136,1 M. Roggen fiel 1881-94 ebendort von 219,5 M. auf 117,4 M. Weniger litt auch hier das Sommergetreide. Große Braugerste ging in Danzig während der angegebenen Periode im Preise von 152,4 auf 122,6 M. zurück, Hafer in Berlin von 150,6 auf 122,2 M. Trotz mancher Abweichungen im einzelnen ist die Bewegung auf allen Kontinentalmärkten eine völlig ähnliche. Indessen beschränkt sich der Preisrückgang auch hier keineswegs auf die verschiedenen Getreidearten, die allerdings nach dem Wertbetrag unter allen Welthandelsartikeln in erster Linie stehen. Eine Reihe anderer landwirtschaftlicher Produkte erlitten das gleiche Schicksal zunehmender Entwertung.

Auf dem Berliner Wollmarkt sanken in dem Zeitraum von 1875 bis 1892 die Preise für mittlere Tuchwolle von 186-201 M. auf 111-130 M. pro Centner zu 50 kg, die Preise für feine wie für ordinäre Wolle in ähnlichem Verhältnis. Die Spirituspreise wurden in Hamburg 1880 noch mit 51,4 M. für 10000 Literprozente Tralles mit Faß notiert, 1894 nur noch mit 19,1 M., während die Preise der Speisekartoffeln bis zu Anfang der neunziger Jahre mit Schwankungen, die durch die wechselnden Ernteverhältnisse verursacht waren, eine steigende Tendenz behaupteten und erst seitdem einen erheblichen Rückgang zeigen. Rohzucker sank im gleichen Zeitraum nach Magdeburger Notierung von 64,1 M. für 100 kg I. Produkt auf 24,3 M. Der Rapspreis stellt sich heute ungefähr auf etwa zwei Drittel des Preise der J. 1850-55. Hat der Rückgang der Voll- und Rapspreise eine allgemeinere Bedeutung, so wird von dem Rückgang der Spiritus- und Zuckerpreise in ganz hervorragendem Grade Deutschland getroffen, da neben Rußland Deutschland der bedeutendste Spiritusproduzent auf dem Weltmarkt