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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Agrarfrage (Gegenwärtige Agrarverhältnisse)

zu erzielen. Die Hauptaufgabe bleibt immer, aus wirtschaftlichen wie aus socialen Gründen, die rechtlichen Beziehungen der eigentlichen Träger der Landeskultur, der mittlern und großen Pächter, zu dem von ihnen bebauten Boden befriedigend zu gestalten. Dies kann geschehen durch eine Reform des Pachtrechts, welche die berechtigten Interessen des Pächters besser und wirksamer schützt, als es die frühern Gesetze gethan haben. Eine solche Reform ist begonnen mit der Agricultural Holding's Act von 1883, welche dem abziehenden Pächter volle Entschädigung für seine Meliorationen sichert nach dem Werte, welchen sie für den Nachfolger haben, und allgemein eine mindestens zwölfmonatige Kündigungsfrist einführt. Indessen ist das Verlangen des Pächterbundes, daß der im Genuß befindliche Pächter gegen eine Erhöhung des Pachtzinses infolge von Verbesserungen, die er selbst vorgenommen hat, geschützt werde, bisher unerfüllt geblieben, da ein Eingehen auf diese Forderung notwendig zur Annahme des Systems des irischen Landgesetzes von 1881, d. h. zur Bestimmung des Pachtzinses durch richterliche Entscheidung in Verbindung mit einem festen und verkäuflichen Pachtrecht führen muß. Andere Bestrebungen gehen darüber hinaus, indem sie zwar an dem System des allgemeinen Pachtbetriebes festhalten, aber das gesamte Grundeigentum auf den Staat übertragen wollen, was die Beendigung der privatwirtschaftlichen und socialen Abhängigkeit der Pächter bedeuten würde ohne gleichzeitige Änderung der Betriebsverhältnisse. Eine dritte Möglichkeit der Lösung wäre die allgemeine Umwandlung der Pächter in Eigentümer, gewissermaßen durch eine Ablösungsgesetzgebung. In welcher Richtung sich zukünftig die Verhältnisse entwickeln werden, ist nicht zu bestimmen. Gewiß ist, daß die bestehende Agrarverfassung, besonders unter den begleitenden Umständen, welche sich in England vorfinden, die Überwindung der herrschenden Agrarkrisis im Vergleich zu andern Ländern wesentlich erleichtert. In der bestehenden Einrichtung der Fideïkommisse (entails), die übrigens nicht lediglich wirtschaftlich beurteilt werden wollen, dürften in wirtschaftlicher Hinsicht die Vorteile entschieden die Nachteile überwiegen, zumal nachdem die mannigfaltigen Verfügungsbeschränkungen, welche sich für die Verwertung des Fideïkommißlandes als hinderlich erwiesen, durch eine reformierende Gesetzgebung längst beseitigt sind. Eine in socialer Hinsicht günstigere Verteilung des Grundeigentums könnte von einer Aufhebung der Institution allenfalls nur dann erwartet werden, wenn zugleich das bestehende Erbrecht für den unbeweglichen Besitz geändert würde. Ein dringendes Bedürfnis ist eine Verbesserung der Rechtsformen, in welchen sich der Grundeigentums- und Hypothekenverkehr bewegt, da sie die Entstehung kleinerer Grundbesitzungen hemmen; doch findet sie in den bestehenden Verhältnissen selbst ein schweres Hindernis. Ernste Gefahren dürften sich aus der A. für England nicht ergeben, da das entschiedene Übergewicht der Industrie- und Handelsinteressen ihre Bedeutung in ganz außerordentlichem Maße herabmindert. Mag man aus dem Umstand, daß die Volksernährung sich in wachsendem Umfange auf auswärtige Zufuhren angewiesen sieht, noch so große Bedenken für die Zukunft des Landes ableiten, eine Politik, welche den Ersatz der Zufuhren in großem Umfang durch Steigerung der einheimischen Bodenproduktion mittels künstlicher Maßnahmen erstrebt, ist durch den Entwicklungsgang der engl. Volkswirtschaft dauernd unmöglich geworden.

In den größern Kontinentalstaaten mußten sich sowohl wegen der größern Wichtigkeit der eigenen Agrarproduktion, als auch wegen des Vorwiegens selbstwirtschaftender Eigentümer und sonstiger Abweichungen der agrarischen Institutionen die Wirkungen der Agrarkrisis wesentlich anders äußern als in Großbritannien. Insbesondere gilt dies für Deutschland, wo das Pachtland nur 16,2 Proz. der landwirtschaftlich benutzten Fläche beträgt und ganz vorwiegend zusammen mit eigenem Lande bewirtschaftet wird. Außerdem waren hier überall die Wirkungen der Preisrevolution nach Maß und Art sehr verschieden je nach den Gegenden und den verschiedenen Klassen der grundbesitzenden und landwirtschafttreibenden Bevölkerung. Weit stärker werden von ihr die östl. Teile Deutschlands betroffen als der Süden und Südwesten, stärker der Großgrundbesitzer als der mittlere und kleinere Eigentümer und Pächter, der eigentliche Bauer. Die Ursache hiervon liegt darin, daß der Schwerpunkt der Landwirtschaft im Osten, wo der Großgrundbesitz und leichterer Boden mehr oder minder vorherrscht, im Getreidebau sowie im Anbau der Brennkartoffel und in der Spiritusbrennerei liegt. Schon der früh beginnende Rückgang der Wollpreise und der Schafzucht lastete in ganz besonderm Maße auf dem Osten. Der Rückschlag, der in der Entwicklung des Zuckermarktes eintrat, wurde vorzugsweise von dem Großgrundbesitze empfunden, der im mittlern Deutschland die eigentliche Grundlage der deutschen Zuckerproduktion geworden war und aus ihr bis dahin gewaltige Vorteile gezogen hatte. Wenn auch der bäuerliche Betrieb, der seinen Hauptsitz in den westl. und südl. Teilen des Reichs hat, ebenfalls nicht unerhebliche Mengen von Getreide für den Markt produziert und daher von dem Sinken der Getreidepreise empfindlich berührt wurde, so hatte er doch seit langem in stärkerm Verhältnisse die Aufzucht und Haltung von Vieh und die Molkerei begünstigt, da er sich für die Pflege der Viehzucht nach seinem ganzen Wesen besser eignet und ihm die größere Dichtigkeit und im Westen und Süden überdies der größere Reichtum der Bevölkerung für Vieh und tierische Produkte einen besonders lohnenden Absatz sichert. Dazu kommt, daß der bäuerliche Betrieb von dem aus der Ab- und Auswanderung der untern Klassen der ländlichen Bevölkerung hervorgehenden Arbeitermangel sowie von der Erhöhung der Arbeitslöhne weniger beeinträchtigt wird, da er in geringerm Maße fremder Arbeitskräfte bedarf. Endlich verringert der Umstand, daß ein größerer Bruchteil der ländlichen Erzeugnisse im eigenen Haushalt unmittelbare Verwendung findet, bis zu einem gewissen Grade die Wirkung sinkender Marktpreise; dazu wird ihm durch das Anwachsen der Städte und durch die Verbesserung der Verkehrsmittel eine umfangreichere und bessere Verwertung mancher tierischer und pflanzlicher Nebenprodukte, vor allem der Milch, Eier u. s. w., gesichert, Produkte, die der Natur der Sache nach der Konkurrenz des Weltmarktes teils ganz, teils in hohem Maße entrückt sind. Dichtere Bevölkerung, Wegebauten, nahe Forsten ermöglichen ihm in vielen Gegenden lohnende Fuhren.

Von dem Umfang und der Zunahme der Verschuldung des Grundbesitzes ermöglichen die