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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Agrarfrage (Mittel zur Abhilfe)

ergiebigen Gebrauch gemacht. Mit Ausnahme von Belgien und den Niederlanden als importierenden, Rußland und den Balkanstaaten als exportierenden Ländern, haben sämtliche Staaten vor allem Getreidezölle eingeführt und deren Sätze meistens im Laufe der Zeit erhöht. Doch hat Deutschland in den seit 1891 geschlossenen Handelsverträgen seine Zollsätze wiederum um etwas ermäßigt und sich an diese niedrigen Sätze für längere Zeit gebunden. Durch die Zölle wurde thatsächlich eine Erhöhung der inländischen Marktpreise erzielt, doch es erwies sich als unmöglich, die Zölle so hoch zu bemessen, daß sie den starken Rückgang der Weltmarktpreise dauernd ausgleichen könnten. Ähnlich liegt es bei den Viehzöllen und den Zöllen auf tierische Produkte, soweit sie Nahrungsmittel betreffen, nur daß sich diese meistens in etwas engern Grenzen bewegten. Ein einziges Land Europas ist weiter gegangen, Portugal, indem es die Weizeneinfuhr principiell verbot und erst nach jedesmaliger Erschöpfung der einheimischen Vorräte eine in der Hauptsache von der Regierung willkürlich zu regelnde Einfuhr fremder Produkte zuließ.

Für Deutschland wurde seit Jahren von den organisierten Landwirten das Ziel einer einheitlichen Preisfestsetzung für sämtliche ausländische Getreide- und Mehlzufuhren verfolgt. Es fand seinen Ausdruck in dem Antrage Kanitz (s. d.), der in Zukunft den Ein- und Verkauf der fremden Ware ausschließlich durch Vermittelung und für Rechnung des Reichs sich vollziehen lassen wollte, damit dieses den Verkaufspreis nach dem Preisdurchschnitt der letzten vier Jahrzehnte normiere. Zuletzt noch im Dez. 1895 in modifizierter Gestalt eingebracht, scheiterte der Antrag jetzt wie früher sowohl an der Unvereinbarkeit seiner Vorschläge mit dem Inhalt der deutschen Handelsverträge, wie auch an der vorherrschenden Überzeugung, daß er wegen der der staatlichen Leistungsfähigkeit gezogenen Schranken praktisch unausführbar sei und, ausgeführt selbst, seinen Zweck verfehlen werde, sowie daß er unvereinbar sei mit den Grundlagen der bestehenden Wirtschaftsordnung. In der That würden die Konsequenzen seiner Bestrebungen in die Herstellung eines staatlichen Getreidehandels und schließlich in die Schaffung eines Brotmonopols ausmünden müssen. Den Bemühungen, durch Begründung des internationalen Bimetallismus eine Hebung der Preise der landwirtschaftlichen Produkte herbeizuführen, wurde bisher durch den Widerstand Englands, ohne dessen Mitwirkung eine bimetallistische Regelung des Geldwesens nicht wohl in Angriff genommen werden kann, die Aussicht auf Erfolg genommen. Aber auch für den Fall, daß der Bimetallismus jetzt oder in Zukunft zur Durchführung gelangen sollte, besteht nach der Lage der Dinge wenig Wahrscheinlichkeit, daß er einen wesentlichen Einfluß auf die Besserung der agrarischen Produktenpreise gewinnen würde. Den östl. Provinzen Deutschlands ist seit 1894 durch Aufhebung des Identitätsnachweises (s. d.) bei der Ausfuhr von Getreide, Hülsenfrüchten, Raps und Rübsaat die Möglichkeit geboten, den Preisvorteil, welchen die Zölle der inländischen Ware zuwenden, auch ihrerseits voll zu genießen. Bis dahin kam den Landwirten jener Gegenden dieser Vorteil nur in einem sehr geringen Maße zu gute, da sie genötigt waren, mit hohen Kosten, welche den Zollvorteil zum größten Teil wieder raubten, ihre Produkte auf die entferntern westl. Märkte Deutschlands zu bringen, oder aber, was auf das Gleiche herauskam, zu einem den Preis des Auslandgetreides nur wenig übersteigenden Preise in der eigenen Gegend zu verkaufen. Das neue Gesetz berechtigte sie, für etwa ausgeführte Ware eine entsprechende Menge der nämlichen Warengattung binnen sechsmonatiger Frist ohne Zollzahlung einzuführen. Die Folge dieser Maßregel war, daß sich auch in jenen Gegenden der Preis der inländischen Ware annähernd um den Betrag des Zolls über den Preis des Auslandgetreides erhob. Eine allgemeinere Wirkung kommt der Beschränkung oder Beseitigung der gemischten Transitlager und der Mühlenlager oder der Mühlenkonten nebst ihrem Zollkredit zu. Die gemischten Transitlager, welche es dem importierenden Getreidehändler ermöglichen, ausländisches Getreide beliebig lange zollfrei zu lagern, um es zu einem geeignet erscheinenden Zeitpunkt nach Wahl entweder ins Inland oder wieder ins Ausland zu schicken, ursprünglich im Interesse des Exports und auch der einheimischen Landwirtschaft geschaffen, büßten durch die Aufhebung des Identitätsnachweises in der Hauptsache ihre Existenzberechtigung ein. Die Einrichtung wirkte danach wesentlich nur noch als ein erweiterter Zollkredit, somit als eine besondere Begünstigung fremder Importware, welche geeignet war, den inländischen Preis zu drücken, und infolgedessen gab es eine Anzahl gemischter Transitläger, welche anstatt dem Transitverkehr zu dienen, keinerlei Wiederausfuhr aufwiesen, vielmehr lediglich Waren für den Import lagerten. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Mühlenkonten, auf Grund deren eine Anzahl größerer Mühlen das Recht besitzen, fremdes Getreide vorläufig ohne Zollentrichtung einzuführen, um später erst den Zoll für das als Mehl in den freien Verkehr gebrachte Importgetreide zu entrichten. Durch die lange Kreditierung des Zolles werden sie veranlaßt, dem billigern Importgetreide vor der um den Zollbetrag verteuerten inländischen Ware den Vorzug zu geben, und schädigen sie zugleich die kleinern Mühlen, die den gleichen Kreditvorteil nicht genießen, und die kleinern Landwirte, welche an letztere liefern. Ein Teil dieser Transitläger und Mühlenkonten ist bereits in neuester Zeit aufgehoben worden, ein Teil nur noch wird einstweilen in Rücksicht auf die berechtigten Bedürfnisse des Exporthandels und der Exportmühlen aufrecht erhalten.

In gleicher Richtung wie die obenerwähnten Schritte bewegen sich die Bestrebungen, welche sich auf Beseitigung jeglichen Zollkredits für ausländische Landwirtschaftsprodukte richten. Denn jeder Zollkredit ist geeignet, die Wirkung der Zölle abzuschwächen, die vertragsmäßige Ermäßigung der deutschen Zölle aber läßt die inländischen Produzenten bei der gegenwärtigen Sachlage jede weitere Erleichterung der Einfuhr ausländischer Konkurrenzware doppelt stark empfinden. Eine besonders große Wirkung erwarten die landwirtschaftlichen Kreise von einer Reform der Produktenbörse und ihrer Einrichtungen. Einen Hauptbeschwerdepunkt bildet neben der Art der bisherigen Kursfeststellung der Terminhandel, welcher mit der Entwicklung des Welthandels für gleichartige Massenprodukte zu immer größerer Verbreitung gediehen ist und mit seiner Ausbreitung in immer höherm Grade maßgebende Bedeutung für die allgemeine Preisbildung erlangt hat. In der Überzeugung, daß