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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Arbeiterfrage (Wohnungsverhältnisse. Litteratur)
die doch allein einen Anspruch auf Unterstützung soll
geltend machen können, so festzustellen, daß alle Ver-
sicherten damit einverstanden sind. Gegenüber den
Arbeitseinstellungen geriete die Versicherung in eine
schwierige Lage. DieFeiernden zu unterstützen, würde
heißen, Partei gegen die Arbeitgeber nehmen; ihnen
die Unterstützung verweigern, das Umgekehrte. Die
mchl zu umgehende Forderung, daß der Arbeitslose
jede Beschäftigung, die ihm angetragen wird, an-
nehmen muß, wenn anders er nicht den Anspruch
auf Unterstützung verwirkt haben will, muh böses
Vlut erregen. Es giebt unliebsame Orte und Per-
sonen, schlecht bezahlte Stellen, geringe Geneigtheit,
an einen andern Ort überzusiedeln; lehnt der Ar-
beiter in solchen Fällen die Arbeit ab und erkennt
die Versicherung die Berechtigung des Vorgehens
nicht an, so ist Mißstimmung nicht zu vermeiden.
Die dmchaus notwendige Kontrolle über den gamen
Verlauf des Arbeitsjahres gehört nicht zu den An-
nehmlichkeiten. Das etwaige Nachspüren nach Neben-
verdiensten, etwaigen Zuschüssen bei halbem Lohn
wird übel aufgenommen werden. Gerade die bessern
Arbeiter, die seltener arbeitslos werden, werden alle
diese Mißlichkeiten lebhafter empfinden und verdrieß-
lich sein, wenn sie für die geringern und unbrauch-
barern Arbeiter mit einstehen, gleichsam für ihren
Unterhalt mit sorgen sollen.
Wenn trotz aller dieser Schwierigkeiten doch schon
Versuche vorliegen zu einer staatlichen Arbeitslosen-
versicherung und an vielen Orten dahin lautende
Anträge erörtert werden, so beweist das, wie weit
die Empfindung gedrungen ist, daß in dieser Rich-
tung etwas geschehen kann und muß. Es ist daher
nicht auMUig, daß die letzte große Katholikenver-
sammlung eine Resolution zu Gunsten der obliga-
torischen Arbeitslosenversicherung faßte. Abgescden
von der Unterstützung, die in den cngl. und deutschen
Gewerkvereinen und Gewerkschaften den Arbeits-
losen gewährt wird, ist mit Errichtung einer frei-
willigen Arbeitslosenversicherung die Stadt Bern
durch Stadtratsbeschluß vom 13. Jan. 1893 voran-
gegangen. Am 1. April 1895 hat man das Statut
geändert, aber nur im Hinblick auf Beiträge und
Unterstützungen. St. Gallen folgte 23. Mai 1895
mit einer städtischen Kasse, die obligatorisch ist für
alle männlichen Arbeiter, deren durchschnittlicher
Tagelohn 4 M. nicht übersteigt. Die Höhe der von
den Versicherten zu zahlenden Wochenprämie schwankt
zwischen 12 und 24 Pf., je nach dem Lohn, und die
Entschädigungen in der Zeit der Arbeitslosigkeit sind
auf 1,40-1,80 M. täglich angefetzt. Die Gemeinde
giebt jährlich einen Zuschuß von 1,60 M. pro Kopf
der Versicherten. Im Kanton Basel-Stadt ist man
über das Stadium des Projekts noch nicht hinaus-
gekommen. In Frankreich hat der Deputierte
Zouffroy 28. Jan. 1895 in der Kammer einen Gesetz-
entwurf auf Einführung der obligatorischen Arbeits-
losenversicherung nach dem St. Gallener Muster ein-
gebracht. Man wird die Erfahrungen in der Schweiz
abwarten müssen, ob auf diesem Wege wirklich eine
Besserung der socialen Zustände erhofft werden darf.
>(S. Arbeitslosenstatistit, Arbeitslosigkeit.)
Wohnungsverhältnisse. Ein letzter nicht gering zu
"achtender Punkt in der Neihe der auf die .Hebung des
Arbeiterstandes abzielenden Maßregeln betrifft seine
Wohnungsweise. Trotz erfreulicher Verbesserungen
Huf diesem Gebiete sieht es stellenweise sowohl in
größern als in kleinern Städten doch noch recht trüb
darin aus. Noch immer ist die Wohnungsnot nicht
ganz beseitigt und offenbart sich in Obdachlosigkeit,
in hohen Mieten, in Mangel an kleinern Wohnungen,
in Überfüllung. Unter letzterer, in der Weise verstan-
den, daß durch das Zusammenpressen vieler Men-
schen in engen Räumen Gesuudheit und Sittlichkeit
gefährdet erscheinen, leidet vielleicht die gesamte
deutsche Arbeiterklasse, von ihrer Elite abgesehen.
Bei solcher Sachlage ist es verständlich, daß eine
Reihe von Wohnungscnqueten im Gange oder in
Vorbereitung sind, um darüber aufzuklären, inwie-
weit Mihstände vorhanden sind und durch bau- oder
gesundheitspolizeiliche Maßregeln Abhilfe geschafft
werden kann. Baden hat den Anfang gemacht, indem
das dortige Ministerium des Innern den Bezirks-
ämtern die Weisung zugehen lieh, die Wohnungs-
verhältnisse der arbeitenden Klassen im Auge zu be-
balten. Der preuß. Medizinalbeamtenverein hat eine
Enquete über die ländlichen Wohnungen eingeleitet,
und an andern Orten ist man gefolgt. Schwerwie-
gender ist, daß man vielfach zum Bau von Arbeiter-
wohnungen schreitet und so das Übel zu beseitigen
sucht (s. Arbeiterwohnungen).
Über die ländliche Arbeiterfrage s. Agrar-
frage (S. 29a).
Litteratur. Die Wochenschrift Sociale Praxis.
Centralblatt für Socialpolitik, hg. von Iastrow
(Berl. 1892 fg.); Arbeiterwohl. Organ des Ver-
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1880); Gemeinwohl. Zeitschrift des Vergifchen Ver-
eins für Gemeinwohl (feit 1887); Handwörterbuch
der Staatswissenschaften (Supplement 1895); Archiv
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einer Socialpädagogik und Socialpolitik (Eisenach
1892); Aug. Kohl, Die deutsche Arbeitergesetzgebung
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Entwicklung und Stand der A. (Prag 1892); Chr.
Schmidt, Die arbeiterfreundliche wirtschaftliche Dik-
tatur (Reichenbach i. Schl. 1893); Kulemann, Der
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ner, Die A. (Berl. 1894); Bödikcr, Arbeiterversiche-
rung in den europ. Staaten (Lpz. 1895); Max
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1894); Alpy, Ouide prati^uL ä68 8Ml1icat8 pro-
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gung in der Schweiz (Lpz. 1895); G. Adler, Die
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keit (Tüb. 1893); ders., Die Versicherung der Ar-
beiter gegen Arbeitslosigkeit im Kanton Basel-Stadt
(Bas. 1895); Hirschberg, Maßnahmen gegenüber der
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der Arbeitslosenversicherung (Vamb. 1895); Hall,
Versickenlng gegen Stellenlosigkeit im Handelsge-
werbe (Münch. 1894); A. Knobloch, Die Beseitigung
der Beitragsmarke (Jena 1896); Lic. Weber, Woh-
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