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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Evangelische Arbeitervereine

schen Text («Joseph, der Mann Marias, von welcher ist geboren Jesus») weit durchgreifender ausfielen als in der neu entdeckten Version. Ferner fehlt dieser letztern im Johannesevangelium noch die Erzählung von der Ehebrecherin (Joh. 8, 1-11), sowie der Schluß des Markusevangeliums (16, 9-20). In Bezug auf diesen machte ferner der engl. Armenist Conybeare die Entdeckung, daß er in der Handschrift einer armenischen Übersetzung in deutlicher Abtrennung vom Evangelium einem gewissen «Ariston, dem Presbyter», zugeschrieben wird, woran sich zahlreiche Vermutungen über eine alte Schrift, sei es von dem bei Papias erwähnten alten Presbyter Ariston oder von dem Aristo von Pella, die vielleicht diesen Abschnitt enthielt, geknüpft haben. - Vgl. F. C. Conybeare, Aristion, the author of the last twelve verses of Mark (in "The Expositor", Lond. 1893).

Evangelische Arbeitervereine, Vereine, die auf Grund des evang. Bekenntnisses unter ihren Mitgliedern christl. Sitte und Bildung pflegen und sie anleiten zu christl. Wandel, zur Vaterlandsliebe und zur Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung ihres Berufs, neuerdings auch zur Vertretung specieller Arbeiterinteressen. Die E. A. wurden zuerst seit 1848 in Bayern begründet, ihre Zahl daselbst ist auf 50 angewachsen, ihr Charakter dem der evang. Männer- und Jünglingsvereine in West- und Norddeutschland am verwandtesten.

Seit 1882 datiert eine von Westfalen und der Rheinprovinz ausgegangene Vereinsbewegung von größerm Umfang und ausdrücklicherm Arbeitervereinscharakter, zuerst durch das Vorgehen eines Bergmanns Fischer und eines Volksschullehrers Bischof in Gelsenkirchen hervorgerufen, mit dem satzungsmäßigen Zweck, unter den Glaubensgenossen das evang. Bewußtsein zu stärken, die Liebe zum Vaterlande und Herrscherhause zu pflegen, die sittliche Hebung und allgemeine Bildung der Mitglieder zu fördern, das friedliche Verhältnis zwischen Arbeitern und Arbeitgebern zu wahren, die Mitglieder in außerordentlichen und unverschuldeten Notfällen zu unterstützen.

In Rheinland und Westfalen sind diese E. A. zu einem Provinzialverband vereinigt, der (1896) 117 Vereine mit 28000 Mitgliedern zählt (außer diesen bestehen in beiden Provinzen noch 30 verbandslose Vereine mit 8500 Mitgliedern). Seit 1887 haben diese Vereine fast in allen übrigen Gebieten Deutschlands Eingang gefunden. Es bestehen 1896 außer dem genannten noch folgende Provinzial-, Bezirks- oder Landesverbände in: 1) Württemberg mit 22 Vereinen und etwa 2300 Mitgliedern, 2) Mitteldeutschland mit 21 Vereinen und 5200 Mitgliedern, 3) Saargebiet mit 21 Vereinen und 3100 Mitgliedern, 4) Baden mit 18 Vereinen und 2700 Mitgliedern, 5) Rheinpfalz mit 15 Vereinen und 2300 Mitgliedern, 6) Mittelrhein mit 14 Vereinen und 2900 Mitgliedern, 7) Kurhessen mit 6 Vereinen und 1200 Mitgliedern, 8) Schleswig-Holstein mit 5 Vereinen und 1100 Mitgliedern. Außerdem gehören 18 Einzelvereine mit 6300 Mitgliedern dem Gesamtverbande an und bestehen noch zahlreiche verbandslose, zum Teil besonders mitgliederreiche (z. B. im Königreich Sachsen, Dresden allein hat 4000 Mitglieder), aus denen neue Verbände sich zu bilden beginnen. Die erstgenannten bayr. Vereine sind dem Gesamtverbande nicht beigetreten. Organ des Gesamtverbandes ist der «Evang. Arbeiterbote» (Hattingen).

Über Ursprung und innere Entwicklung ist Folgendes bemerkenswert: In den industriereichen, konfessionell stark gemischten Gegenden am Niederrhein stand um 1880 der größte Teil der Arbeiter einerseits unter dem Einflusse des Ultramontanismus, andererseits unter dem der Socialdemokratie. Zur Gegenwehr nach beiden Seiten hin vereinigten sich evangelisch und patriotisch gesinnte Männer, meist Bergleute, Handwerker, niedere Beamte, Hütten- und Fabrikarbeiter, aus eigenem Antrieb, zugleich durch die kaiserl. socialreformatorische Botschaft vom J. 1881 und durch die Vorbereitungen zur vierten Säkularfeier des Geburtstages Martin Luthers in ihrer Gesinnung gestärkt. Die socialfriedliche Absicht der Begründer kam sofort zum deutlichen Ausdruck in der Gewinnung von Arbeiterfreunden aus andern Ständen, evang. Geistlichen, Arbeitgebern, Beamten. Monatliche Vorträge zur Belehrung, mehrstimmiger Volksgesang, Vereinsbücherei, Verbreitung evangelisch-patriotischer Zeitschriften, Beratung über Hebung der ökonomischen Lage und Beseitigung schädlicher Zustände in den Betrieben, Spargelegenheit, freie Hilfskassen, gemeinsame billige Beschaffung von Lebensmitteln, Arbeiterbaugenossenschaften, christl. Volksfeste, strenge Vereinszucht hinsichtlich des Lebenswandels und der bürgerlichen und kirchlichen Pflichten der Mitglieder und entschiedene Fernhaltung von agitatorisch betriebenen Arbeiterausständen, Übernahme eines Arbeiterfeierabendhauses (in Volmarstein), Errichtung von Arbeitsnachweis und Rechtsschutz in sog. Volksbureaus u. dgl. kennzeichnen das Vereinsleben. Hier fanden von Anfang an die berechtigten Arbeiterinteressen eine ebenso besonnene als thatkräftige Vertretung, wie das entschiedene Eintreten für die gewerbliche Sonntagsruhe und die besonders erfolgreiche Einrichtung der «Hilfs-Kranken- und Sterbekasse evang. Arbeitervereine» mit dem Sitz in München-Gladbach (1890-96 auf 3700 Mitglieder aus dem Gesamtverband angewachsen) beweisen. Hervorragende Verdienste um die Vereinssache hat sich Pfarrer Licentiat Weber in München-Gladbach erworben.

Durch die Ausbreitung auf mehr evang. Gebiete (seit 1887) und seit der Aufhebung des Socialistengesetzes (1890) ist die konfessionelle Frontstellung mehr zurückgetreten und die Beschäftigung mit den socialen Fragen mehr in den Vordergrund gestellt worden. Ganz besonders in Mittel- und Süddeutschland ist das Ringen nach einer socialpolit. Stellung und Bedeutung der Vereine überwiegend. Der Einfluß des Evangelisch-socialen Kongresses (s. d.) und seiner Informationskurse zeigt sich in der Einführung von socialpolit. Diskussionsstunden, in der Veranstaltung von Enqueten über specielle Arbeiterverhältnisse und in der Herausgabe von evang. Arbeiterzeitungen, die auf eine Arbeiterinteressenvertretung hinwirken, die sich mit den Tendenzen der Gewerkschafts- und Fachvereinsbewegung berührt, jedoch an der Grundlage einer christlich-socialen Weltanschauung festzuhalten sucht. Jene ältere und diese jüngere Richtung haben sich 1893 zur Aufstellung von Grundlinien für Vorträge und Diskussionen in E. A. geeinigt, die von solcher Grundlage ausgehend den weitern Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung im Groß- und Kleinbetrieb, in Handel und Verkehr anstreben und auf folgendes Arbeitsprogramm hinauskommen: 1) Die Vereine suchen die religiöse, geistige und sittliche