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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Kirchenpolitik
chenstaatstum). Diese K. ist die logisch notwen-
dige Konsequenz des mittelalterlichen kanonischen
Rechts und beherrschte als solche Jahrhunderte lang,
wenn auch unter Schwankungen und mit territoria-
len Modifikationen, die christl. Welt. Europ. Staa-
ten erkennen heute diese Principien der K. nicht mehr
an; wohl aber beherrschen sie noch die meisten der
süd- und mittelamerik. Republiken, die sich aus dem
span. Kolonialreich gebildet haben. Auch in prot.
Formen findet sich diese K. in der Geschichte (Calvin,
Cromwell), ist aber hier noch vollständiger über-
wunden als in den katholischen, die grundsätzlich
von der päpstl. Kurie auch heute noch festgehalten
und gefordert werden. Das zweite System ist das
Staatskirchentum. Hier leitet bald ingrößerm
(Cäsaropapismus, s. d., Bd. 3), bald in geringerm
Umfang der Staat als solcher die Kirche in ihren
innern Angelegenheiten, entweder aus religiösem
(älteres) oder aus staatlichem Interesse (jüngeres
Staatskirchentum). Staatskirchentum herrschte im
Oströmischen Reich, im Franken- und bis zum
11. Jahrh, im Deutschen Reich; vom 15. Jahrh, an
allmählich in den deutschen Territorien. Staats-
kirchentum herrscht heute noch in Bayern. Das
dritte System ist das der Trennung von Staat
und Kirche ("freie Kirche im freien Staate"). Sein
Grundgedanke ist, daß die Kirchen lediglich als Re-
ligionsvereine in Betracht kommen, ohne besondere '
Privilegien, sei es fördernde, wie finanzielle Dota- !
tion, sei es lästige, wie besondere Staatsaufsicht. Der !
Staat foll danach in seiner Gesetzgebung und Ver-
waltung seine eigenen, ihm nur durch seine Zwecke ,
und Interessen vorgezeichneten Wege gehen, ohne
jede Rücksicht auf kirchliche oder religiöse Gesichts-
punkte. Die Kirchen ihrerseits sollen nur dem all-
gemeinen Vereinsrecht unterliegen wie jeder Turn-
oder Sängerverein; nur an dem allgemeinen Ver-
einsrecht finden hiernach die Kirchen eine Schranke
für die Freiheit ihrer Bewegung in Ordnung ihrer
Verhältnisse. Die Staatsverwaltung nimmt keinerlei
Rücksicht auf kirchliche Dinge, und die leitenden Per-
sönlichkeiten werden hier wie dort ohne jede gegen-
seitige Rücksicht ausgewählt. Die Gedanken dieser
K. waren insbesondere maßgebend in den deutschen
Freiheitsbewegungen des I. 1848; sie haben auch
in deutschen Staatsverfassungen mehrfach einen
Nachhall gefunden, da man sie als notwendige lo-
gische Konsequenz aus dem Princip der Gewissens-
freiheit betrachtete. Eine Verwirklichung aber haben
sie in Deutschland nicht gefunden. Wohl aber bilden
sie die Grundlage der Gesetzgebung in den noro-
amerik. Freistaaten und in Belgien, wobei für letz-
tern Staat diese K. vielfach als die Hauptursache
der die Grundfesten des Staates gefährdenden der-
maligen parlamentarischen Verwirrung erklärt wird.
England und Holland huldigen dieser K. in Bezug
auf die kath. Kirche. Auch Italien hat diese Prin-
cipien theoretisch anerkannt und ihnen in dem sog.
Garantiegesetze von 1871 staatsgrundgesetzlichen
Ausdruck verliehen. Diese K. hat wegen ihrer blen-
denden logischen Konsequenz vielfache und wert-
volle theoretische Vertretung gefunden. Auch das
Deutsche Reich hat in der Einführung der obliga-
torischen Civilehe, in der gesetzlichen Feststellung der i
Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürger-
lichen Rechte vom Religionsbekenntnis sich jenen
Principien genähert; ebenso die schweiz. Eidgenossen-
schaft. Die kath. Kirche lehnt zwar diese K. grund-
sätzlich ab und erklärt nur die oben skizzierte für zu-
lässig; in der Praxis aber steht man ihr nicht feind-
lich gegenüber, benutzt sie vielmehr geschickt zur Vor-
bereitung der Herrschaft der Kirche über den Staat,
wozu die modernen Freiheitsinstitutionen, insonder-
heit die parlamentarischen, soviel als möglich aus-
gebeutet werden.
Die heutige K. der meisten deutschen Staaten ist
die der kirchlichen Selbstverwaltung. DieKirche
leitet sich selbst und steht grundsätzlich nur unter
einer nachher histor. Bedeutung der einzelnen Kirche
für den ^taat entsprechend abgestuften besondern
(d. h. über die sonst gegen Vereine geübte hinaus-
gehenden) Pflege und Aufsicht (Polizei) des Staates.
Der Staat gewährt den Landeskirchen sehr bedeu-
tende finanzielle Dotationen; giebt ihren Dienern
teils die allgemeinen Veamtenrechte, teils beson-
dere Ehrenrechte (Titel, Rang, parlamentarische
Vertretung); bringt das Vottsschulwesen in be-
stimmt geregelte Verbindung mit der Kirche; er-
richtet und unterhält theol. Fakultäten an Staats-
universitäten; gewährt Erleichterungen im Militär-
dienst und in der Besteuerung u. dgl. m. Anderer-
seits wahrt sich der Staat das Reckt, daß nur ihm
genehme Persönlichkeiten zu geistlichen Stellen be-
rufen werden dürfen; fordert wohl auch von den
Berufenen einen besondern Eid; übt eine bestimmt
geregelte Aufsicht über die Verwaltung des Kirchen-
vcrmögcns, die Handhabung der Kirchcnzuckt, die
besondern kirchlichen Lehr- und Vildungsanstalten,
die Vereinigungen zu kirchlichen Zwecken (Orden,
Kongregationen, Bruderschaften) u. a. m. Die
Theorie faßt diese Rechte wohl zusammen unter der
Bezeichnung .ju8 circa. Lacra (s. d., Bd. 9) oder
Staatsaufsichtsrccht über die Kirche; im einzelnen
ist dieses Recht in allen Staaten verschieden aus-
gebildet. In Frankreich geht die Entwicklung mehr
und mehr dahin, daß zwar eine weitgehende Staats-
aufsicht festgehalten, die Privilegien der Kirche aber
eingeschränkt oder ganz beseitigt werden.
Im Unterschied von M3 circa. Lacrll. versteht die
Theorie unter ^8 in saci-a. das Kirchenregiment.
Dasselbe steht in der kath. Kirche dem Papst und
den Bischöfen zu, letztern im Rahmen des staatlich
geordneten Ai3 circa. Lacra, indes die früher dem
Papst gegenüber beanspruchten Befugnisse (Über-
wachung des Verkehrs der Bischöfe mit dem Papst,
sog. Placet, s. d., Bd. 13, u. a. m.) heute aufgeben
oder praktisch wertlos sind. Dagegen steht in der
cvang. Kirche nach der deutschen Entwicklung das
Kirchenregiment (^u3 in Lacra.) heute noch den Lan-
desherren zu, und man spricht in diesem Sinne vom
landesherrlichen Summepiskopat (s. d., Bd. 15).
Diese Einricktung, das Ergebnis einer merkwürdigen
distor. Entwicklung, artete unmittelbar nach der Re-
formation vielfach in cincn starren Cäsaropapismus
aus, der indes heute außer in Rußland allenthalben
überwunden ist und sich in eine, allerdings mit be-
deutsamen materiellen Rechten ausgestattete Schirm-
herrnstcllung des Landesherrn zur evang. Kirche
umgewandelt hat. Der landesherrliche Eumm-
episkopat wird ausgeübt durch die Konsistorien (Ober-
kirchenrütc), deren Mitglieder der Landesherr beruft.
Letzterm sind jedoch bestimmte Rechte zu alleiniger
Ausübung reserviert, so insbesondere das Recht der
Sanktion von Kirchengesctzen; auch hat der Landes-
berr mehrfach, so in Preußen, einen Einfluß auf die
Zusammensetzung der synodalen Körperschaften.
Vgl. außer den Lehr- und Handbüchern des
Kirchenrechts und der Kirchengeschichte von Vering,
Artikel, die man unter K vermißt, sind unter C aufzusuchen.