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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Kriminalität - Kriminalpolitik
ital. Mediziner Cesare Lombroso (s. d., Bd. 11). Die Lehre Lombrosos hat bedeutenden Erfolg zu verzeichnen. Sie gab sowohl zu einem ungemein regen theoretischen und praktischen Betrieb der Kriminalpolitik Anlaß, wie sie auch die letztere und die darauf ruhende neue Gesetzgebung inhaltlich beeinflußte (stärkere Berücksichtigung des Unterschiedes Mischen Gelegenheits- [Augenblicks-] und Gewohnheits-[Zustands-] Verbrechern bei Auswahl der Strafarten, höhere Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse bei Strafzumessung in dem österr. und schweiz. Strafgesetzbuchentwurf). Dabei beruht ihr Erfolg weniger auf ihrem Inhalt als auf ihrer Methode. Ihr Inhalt geht dahin: das Verbrechen ist nur aus der anatom. und physiol. Eigenart des Individuums zu erklären, der Verbrecher wird geboren, er ist ein von Natur abnorm veranlagter Mensch; es giebt einen anthropologischen, auf Vererbung zurückzuführenden Verbrechertypus. Die Besonderheit der Methode Lombrosos besteht in der individualisierenden Behandlung des Verbrechers, d. h. darin, daß er nicht bloß das Verbrechen, die That, sondern auch den Verbrecher studiert. Ihrem Inhalt nach ist die Theorie Lombrosos als unzulänglich und einseitig allgemein erkannt. Sie vermag nur das Zustands-, nicht das Augenblicksverbrechen zu erklären (s. Kriminalität), und dann giebt es nicht bloß geborene, sondern auch gewordene Zustandsverbrecher, nicht alle Verbrecher sind abnorm geboren; es erklären sich also nicht einmal alle Zustandsverbrechen aus natürlicher Veranlagung, ein Satz, den neuerdings (1896) selbst einer der seiner Zeit ersten Anhänger Lombrosos, der ital. Jurist Ferri, ausgesprochen bat. Den Umschwung der Meinungen zeigt am besten das Programm des im Aug. 1896 in Genf abgehaltenen vierten internationalen kriminalanthropolog. Kongresses (frühere Kongresse in Rom 1885, Paris 1889, Brüssel 1892), das sich, wie schon das des dritten Kongresses, scharf gegen Lombroso wendet. Die neuesten Themata der K. sind beispielsweise "Fingerabdrücke als Identifizierungsmittel" oder "die Bekämpfung des Anarchismus vom kriminalanthropolog. Standpunkt aus".
Die Kriminalpsychologie zeigt eine doppelte Richtung; teils ruht sie lediglich auf anthropolog. Grundlage (hiernach hat sie es nur mit abnormen Seelenzuständen, mit Psychopathologie zu thun; Anhänger Lombrosos), teils ist sie (die heute herrschende Richtung) dieser Schule gegenüber selbständig und geht davon aus, daß auch äußere Umstände zu Verbrechernaturen stempeln können (s. Kriminalität). Eine besondere Aufgabe derselben ist, die psychol. Unterschiede, die zwischen den einzelnen verbrecherischen Menschen bestehen, auch physiologisch zu erklären.
Litteratur. 1) Zur K. im engern Sinne: Lombroso und Ferrero, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte (deutsch von Kurella, Hamb. 1894); Z. Ellis, Verbrechen und Verbrecher (deutsch von Kurella, ebd. 1894); Paola Lombroso (Tochter des C. Lombroso), Saggi di psichologia del bambino (Kinderpsychologie, Tur. 1894); Jaeger, Beiträge zur Lösung des Verbrecherproblems (Erlangen 1895); Arndt, Biolog. Studien (Greifsw. 1895); C. Lombroso, Der Verbrecher, Bd. 3 (Atlas mit erläuterndem Text, in deutscher Bearbeitung von Kurella, Hamb. 1896); ders., Die Anarchisten (deutsch von Kurella, ebd. 1896); von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts (7. Aufl., Berl. 1896), §. 13; Ferri, Die positive Strafrechtsschule (in der "Zukunft", 4. Jahrg., ebd. 1896, Nr. 31). 2) Zur Kriminalpsychologie: Ave-Lallemant, Das deutsche Gaunertum in seiner socialpolit., litterar, und linguist. Ausbildung zu seinem heutigen Bestände (4 Bde., Lpz. 1858 - 62); von Krafft-Ebing, Grundzüge der Kriminalpsychologie (2. Aufl., Erlang. 1882); Guillot, Les prisons de Paris (Par. 1890); Lindenberg, Die Berliner Polizei und das Verbrechertum (Berl. 1892); Puibaraud, Les malfaiteurs de profession (Par. 1893); Groß, Handbuch für Untersuchungsrichter (2. Aufl., Graz 1892); Forel, Hypnotismus (3. Aufl., Zür. 1895); Tebaldi, Napoleone (psychol. Schilderung, Padua 1895); von Liszt, Kriminalpsychologie als Grundlage der Kriminalpolitik (in der "Zukunft", 4. Jahrg., Berl. 1896, Nr. 27); ders., Die psychol. Grundlagen der Kriminalpolitik (in der "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft", Bd. 16, ebd. 1896); Archivio de psichiatria antropologia criminale e scienze penali, hg. von Lombroso (Turin, seit 1880); Archives d’anthropologie criminelle et des sciences pénales (Lyon, seit 1886).
*Kriminalität, die Eigenschaft, Verbrecher zu sein. Es giebt verschiedene Arten derselben, die eine verschiedene kriminalpolit. Behandlung fordern (s. Kriminalpolitik). Nach F. von Liszt, der sich um die Feststellung dieser Arten besonders bemüht hat, ist akute und chronische K. zu unterscheiden. Die Verbrecher zerfallen hiernach in Gelegenheits- und Gewohnheitsverbrecher, wie der Gegensatz gewöhnlich bezeichnet wird, oder, wie ihn Liszt bezeichnet wissen möchte, in Augenblicks- und Zustandsverbrecher. Die Unterscheidung führt auf die Erwägung zurück, daß bei einem Teil der Verbrechen die von außen an den Thäter im Augenblick der That herantretenden Verhältnisse, bei andern die Eigenart des Thäters, also eine dauernde Eigenschaft an Einfluß überwiegt. Dort wird jemand durch äußere drückende Notlage zu einem seinem Wesen fremden Verbrechen veranlaßt, hier ist es die dauernde Eigenart (Roheit, festgewurzelte Arbeitsscheu), die bei ganz geringfügigem äußern Anlaß zum Verbrechen führt. Aus dem Motiv der That allein kann die in Betracht kommende Art der K. nicht abgeleitet werden. Not- und Affekt- (in Leidenschaft begangenes) Verbrechen kann sowohl Augenblicks- wie Zustandsverbrechen sein. Ein bisher unbescholtener ruhiger, friedliebender Mensch kann durch schwere Kränkung zu jäher Blutthat hingerissen werden, und andererseits giebt es Menschen, die so leidenschaftlich veranlagt sind, daß der geringste äußere Anlaß die leidenschaftliche Erregung hervorruft und zur That werden läßt. Die Zustandsverbrecher teilt Liszt dann weiter in vollkommene (unverbesserliche) und in angehende (besserungsfähige), d. h. in solche, bei denen der Hang zum Verbrechen unausrottbar geworden ist, und solche, bei welchen er erst in der Entwicklung steht. - Vgl. von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts (7. Aufl., Berl. 1896), §. 14; ders., Kriminalpsychologie als Grundlage der Kriminalpolitik (in der "Zukunft", 4. Jahrg., ebd. 1896, Nr. 27).
Kriminalphysiologie, s. Kriminalanthropologie.
Kriminalpolitik, die Lehre von den Strafzwecken und der zweckmäßigsten Einrichtung der Strafgesetzgebung und des Strafvollzugs. Zwei