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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Orientalische Frage
gaben, wovon 1600000 Frs. als Gewinn an die
Anteilscheine (je 16 Frs.) verteilt wnrden. Auf der
Eisenbahn Saloniki-Monastir wurden 1895: 82125
Personen, 215 t Gepäck und 46 610 t Eil- und Fracht-
gut befördert. Die Betriebseinnahmen betrugen
1382 218, die Ausgaben 734 922 Frs.; die türk. Re-
gierung muhte 1730377 Frs. Zinsengewahr zahlen.
* Orientalische Frage. Den ältesten Einfluß
im Orient besitzt Frankreich. Seit dem mit Franz I.
1535 abgeschlossenen Vertrage gewährte die Pforte
den Franzosen eine Reihe von Kapitulationen, die sich
auf alle Zweige des internationalen Verkehrs erstreck-
ten, in ihrer Gesamtheit aber erst durch den Art. 1
des Pariser Vertrags von 1802 völkerrechtlichen Cha-
rakter erhielten. Daher gilt Frankreich als die Schutz-
macht der kath. Christen im türk. Reiche. Seit diese
Macht aber durch ihre Kolonialpolitik auf Afrika und
Ostasien angewiesen ist, hat sie auf eine weitere Aus-
dehnung ihres Einflusses in Vorderasien verzichten
müssen. Die führenden Mächte sind daher jetzt Nuß-
land und England. Ersteres ist schon durch seine Lage
auf eine Ausdehnung seines Machtbereichs nach dein
Mittelmeer zu angewiesen. Die Verdrängung der
Türken aus Europa und die Besetzung von Konstan-
tinopel ist daher, wenn auch oft geleugnet, seit Katha-
rina II. das natürliche Ziel der russ. Politik. Dies zu
verhindern ist England genötigt, weil dadurch und
durch das gleichzeitige Vordringen der russ. Macht
in Mittelasien seine Handclsinteressen und seine
Herrschaft in Indien bedroht sind. Osterreich, das zu
Beginn der Neuzeit jahrhundertelang am schwersten
unter den Türkenkriegen gelitten hat, ist durch
innere polit. Schwierigkeiten verhindert, seine ganze
Macht auf der Valkanhalbinsel zu entfalten und muß
sich mit der Herrschaft über die Westslawen begnügen.
Das erste Zeichen des beginnenden Verfalles der
osman. Macht (s. die hier beigefügte Historische
Karte zur Orientalischen Frage) ist der am
26. Jan. 1699 abgeschlossene Friede von Karlowitz,
der das türk. Reich in Europa auf die Balkanhalbinsel
beschränkte. Von noch größerer Bedeutung war der
Friede von Kücük-Kainardza vom 21. Juli 1774, der
die türk. Herrschaft in der Krim aufhob und den russ.
Einfluß in der Türkei begründete. Denn aus dem
darin gegebenen formellen Versprechen des Sultans,
seine christl. Unterthanen zu schützen, leitete die russ.
Diplomatie ein Protektorat des Zaren über seine
Glaubensgenossen im Orient ab. Die erste prak-
tische Anwendung dieses Anspruchs war die nach
zweijährigem Kriege durch den Frieden von Adria-
nopel 14. Sept. 1829 im Einverständnis mit den
andern Großmächten durchgesetzte Befreiung Grie-
chenlands von der türk. Herrschaft. Dieser Sieg
Rußlands aber hatte nun zwei wichtige Folgen. Die
Großmächte gelangten zu der Überzeugung, daß
das Osmanische Reich zur Erhaltung des europ.
Gleichgewichts vor gänzlichem Untergang zu be-
wahren sei, daß es sich aber, um lebensfähig zu
bleiben, im Innern selbst zu reformieren habe.
Sie unterstützten daher 1840 den Sultan gegen
seinen übermächtigen Vasallen Mehemed Ali von
Ägypten. Der erste Schritt auf dem Wege zur Reform
war der Hatt-i-Scherif von Gülhane vom 3. Nov.
1839, der die polit. Rechte der Najah anerkannte.
Der nächste Versuch Ruhlands, aus Anlaß der Hei-
ligen-Stättenfrage <s. Stätten, heilige, Bd. 15) eine
formelle Anerkennung seines Protektorats über die
Christen im Orient zu erzwingen, führte zum Krim-
oder Orientkriege. Der dritte Pariser Friede vom
30. März 1856 hob Rußlands Protektorat über die
Donaufürstentümer auf, neutralisierte das Schwarze
Meer und nahm die Pforte ausdrücklich in das
europ. Konzert auf, nachdem sie durch den Hatt-i-
Humajun vom 18. Febr. 1856 die polit. Gleich-
berechtigung ihrer Unterthanen verbürgt hatte. Je-
doch erwiesen sich alle Neformplüne der Pforte als
undurchführbar, da die Mohammedaner die Vor-
schriften des Korans durch sie verletzt sahen und
die Christen ihre Selbständigkeit bedroht glaubten,
als man ihrer Geistlichkeit die durch jahrhunderte-
lange Gewöhnung geheiligten Verwaltungsbefug-
nisse nehmen mußte. Die Rassen- und Glaubens-
unterschiede schließen noch jetzt jeden Gedanken an
ein gemeinsames Vaterland aus. Die Beamten,
die sich seit der Vernichtung der Ianitscharen 1826
ausschließlich aus der moralisch verkommenen Stam-
buler Aristokratie rekrutierten, waren unfähig, die
Verwaltung zu reorganisieren. Seit 1854 kontra-
hierte das türk. Reich, das bis dahin keine eigent-
lichen Staatsschulden gehabt hatte, binnen 20 Jah-
ren eine Schuld von 6 Milliarden Frs. Das De-
ficit wuchs von Jahr zu Jahr, fo daß 1875 der
Staatsbankrott erklärt werden muhte. Die Er-
hebung des Prinzen Karl von Hohenzollern zum
Fürsten von Rumänien im I. 1866 und die 1873
von Ismail Pascha, Chediv von Ägypten, erlangte
fast völlige Selbständigkeit zeigten die Ohnmacht
der Pforte gegenüber den centrifugalen Tendenzen
der Vasallenstaaten. Die panslawistischen Wühle-
reien, deren Seele der russ. Botschafter in Konstan-
tinopel, Ignatiew, war, führten Anfang der siebziger
Jahre immer wieder zu Aufständen in der Balkan-
halbinsel. Weder die Reform-Irade vom 12. Dez.
1875, noch die von Midhat Pascha nach europ.
Muster ausgearbeitete und 23. Dez. 1876 prokla-
mierte, aber schon nach der ersten Sitzungsperiode
stillschweigend abgeschaffte Repräfentativverfassung
konnte dem Verfall steuern. Der Rufsisch-Türkische
Krieg von 1877/78 hätte vielleicht der osman. Herr-
schaft in Europa ein Ende gemacht, wenn nicht Eng-
land für sie eingetreten wäre. Auf dem Berliner
Kongreß 1878 wurden Serbien, Montenegro und Ru-
mänien als unabhängig, Bulgarien als tributpflich-
tiges Fürstentum anerkannt. Österreich erhielt Bos-
nien und die Herzegowina, Ruhland die Hälfte von
Armenien, England Cypern. Gegen die 1882 erfolgte
Besetzung Ägyptens durch die Engländer war die
Pforte machtlos. 1884 wurde Ostrumelien (s. d.,
Bd. 12) durch den Aufstand von Philippopel mit
Bulgarien vereinigt. Seitdem wurde auch in Mace-
donien immer wieder der Versuch gemacht, die slaw.
Elemente zum Anschluß an Bulgarien zu bewegen.
Die 1887 erfolgte Wahl des Prinzen Ferdinand von
Coburg zum Fürsten von Bulgarien schien anfangs
eine Schwächung des russ. Einflusses zu bedeuten.
Seit 1894 hat aber auch dieser sich wieder eng an Ruß-
land anschließen müssen, um endlich die ihm bis da-
hin versagte Anerkennung zu erlangen. Seit 1891
machten auch die Armenier den Versuch, gleich den
Rajahvölkern der Balkanhalbinsel das türk. Joch ab-
zuschütteln (s. Armenien), und der Aufstand von 1895
sowie die fortdauernden Unruhen in Kreta (s. d.),
das seit 1830 in fast ununterbrochenen Aufständen
seine Freiheit zu erkämpfen suchte, bedrohen Europa
ernstlich mit kriegerischen Verwicklungen, besonders
seitdem Griechenland 15. Febr. 1897 gegen alles
Völkerrecht auf Kreta Truppen landen ließ und die
Insel in Besitz zu nehmen erklärte. Gleichlautende