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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Regelmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit, Gesetzmäßigkeit; Verzierung

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Die Urgeschichte der Kunst.

Bei den Waffen und Geräten kam der nächste Kulturfortschritt in der Verzierung zum Ausdruck.

Es zeigt sich hierbei eine Gleichartigkeit des Entwicklungsganges, welche ihre natürliche Erklärung in der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis findet.

Regelmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit, Gesetzmäßigkeit. Die für den einfachen Sinn auffälligste Erscheinung, welche besonderen Eindruck macht, ist "Regelmäßigkeit". Wer mit schlichten Bauern verkehrt hat, wird wohl beobachtet haben, daß diese recht regelmäßige Formen "schön" finden, und auf Kinder machen solche ebenfalls starken Eindruck. Das Merkwürdige ist, daß vollkommen regelmäßige Formen, "reine" Vierecke oder Kreise, Würfel oder Kugeln, in der Natur nicht zu finden sind, selbst die Krystalle sind niemals vollkommen "rein". Es ist immer eine, wenn auch kleine Abweichung von der geometrisch richtigen Form vorhanden. Die Reinheit der letzteren erkennt der Mensch als einen Vorzug, und indem er sie anstrebt, sucht er die Natur zu verbessern.

Minder sinnfällig und daher erst bei vorgeschrittener Erkenntnis aufzufassen ist die "Verhältnismäßigkeit", das Zusammenstimmen der einzelnen Teile eines Ganzen nach einem bestimmten, aber doch einfachen Gesetze. Die deutsche Sprache hat merkwürdigerweise keinen kurzen handlichen Ausdruck für das "Schön-Verhältnismäßige", und so muß ich wohl den undeutschen gebrauchen, und diese Formen "harmonische" nennen.

Das Letzte und Höchste, nur dem vollgebildeten Geiste erkennbar, ist die "bloße Gesetzmäßigkeit", der Zusammenhang, welcher notwendig bedingt ist durch die Wechselwirkung der einzelnen Teile auf einander, und dem ein nicht mehr einfaches, sondern verwickeltes Gesetz zu Grunde liegt. Das "Harmonische" ist nur eine Einzelart des "Gesetzmäßigen", das "Regelmäßige" wieder eine solche des "Harmonischen".

In allen ordentlichen - das heißt nicht gewaltsam gestörten - natürlichen Erscheinungsformen ohne Ausnahme herrscht "Gesetzmäßigkeit", und ich will gleich hier bemerken, daß sie auch unbedingtes Erfordernis für jedes Kunstwerk ist, was von "Harmonie" und "Regelmäßigkeit" nicht gilt.

Verzierung. Diesen Stufen entspricht genau auch die Entwicklung der Verzierung (Ornamentik). Die ersten Formen waren regelmäßig angeordnete Punkte und Linien, dann kamen höhere geometrische Zeichnungen - Kreise, Schraubenlinien u. s. w. - an die Reihe; später erst die "harmonischen" und zuletzt wirkliche Nachbildungen natürlicher Gegenstände. Den gleichen Vorgang sieht man aber in der Formengebung überhaupt, bei Bauten wie bei Geräten wird zuerst Regelmäßigkeit angestrebt - wenn auch nicht erreicht - dann später Verhältnismäßigkeit oder Harmonie. Rechtecke, Kreise, Würfel, Pyramiden,

^[Abb.: Fig. 7. Einige Formen der La Tène-Zeit.

1. Eisernes Schwert mit Scheide (die Schale des Griffes fehlt). 2, 3, 4. Verzierungen von Eisenschwertern. 5. Lanzenspitzen. 6. Gewandnadel aus Bronze mit Spiralmuster. 7. Bronzene Kriegerfigur aus Idria.]