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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Germanische Kunst

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Germanische Kunst.

den Boden der Wirklichkeit zu verlassen. Es zeigt sich daher - insbesondere in den Bauwerken - ein wahrhaft schöner Einklang zwischen dem Ganzen und den Teilen, ein ungemeiner Reichtum an verschiedenen Formen im einzelnen, eine unversiegliche Erfindungsgabe in der Gestaltung des Schmuckwerkes und der Zierweisen, und dies entschädigt reichlich dafür, daß noch die volle Sicherheit in der Beherrschung der Form fehlt. Der romanische Stil ist daher auch nicht so streng gebunden, wie der "klassisch-antike" und der "gotische", er läßt der Schöpfungskraft im ganzen mehr Freiheit und damit eine reiche Mannigfaltigkeit entwickeln.

In diesem Walten der einzelpersönlichen Freiheit prägt sich eben der germanische Geist des Zeitalters in erster Linie aus. Die innere Lebenskraft dieser Kunstweise bewahrte sie auch vor einem eigentlichen "Verfall" oder "Entartung"; der romanische Stil konnte nur verdrängt werden und gewissermaßen in Vergessenheit geraten, und dies hing nicht zum wenigsten auch damit zusammen, daß später das deutsche Volksbewußtsein verdunkelt wurde und die Neigung zum "Weltbürgerlichen" das scharfe, selbstbewußte Hervorkehren der volklichen Eigenart nicht aufkommen ließ. Erst als der Deutsche wieder auf sein Volkstum stolz zu werden begann, fand man auch wieder das volle Verständnis für diesen dem deutschen Geiste so sehr entsprechenden Stil.

Freiheit des Stils. Da "Freiheit und Mannigfaltigkeit" die Kennzeichen des romanischen Baustils sind, so ergiebt sich daraus, daß derselbe keine so strengen, alle Einzelheiten regelnden Gesetze aufweist, wie der spätere gotische Stil, sondern die Werke

^[Abb.: Fig. 242. Der Dom zu Bamberg.]