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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Germanische Kunst

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Germanische Kunst.

art der Künstlerschaft bestimmte auch die ganze geistige Auffassung, die strenger kirchlich blieb, und eine gewisse Gebundenheit an überlieferte Regeln, woraus sich die größere Gleichmäßigkeit bei den Werken dieses Zeitalters ergab. Nunmehr ging aber die Kunstübung aus geistlichen in weltliche Hände über, und dies bedeutete eine größere Freiheit für das Kunstschaffen, die weltlichen Meister konnten weit mehr auch ihre persönliche Eigenart - man könnte auch sagen: ihren Ehrgeiz - zum Ausdruck bringen. Insbesondere im Bauwesen waren die großen Fortschritte in der Ausbildung der Arbeitsfertigkeit eine Folge davon.

Bauhütten und andere künstlerische Gemeinschaften. Die weltlichen Bauleute vereinigten sich bald zu Körperschaften, wie dies im Geiste des Mittelalters lag. Ursprünglich bildeten wohl nur die bei einem bestimmten Bau beschäftigten Leute - also die Angehörigen einer Werkstätte - eine freie Gemeinschaft, die dann entweder an dem Orte seßhaft blieb oder auch nach Abschluß des Baues weiter wanderte. Später wurden diese freien Genossenschaften zu förmlichen Zünften oder Gilden ausgebildet, - den Bauhütten, Steinmetzhütten, auch Baulogen genannt - und im 15. Jahrhundert versuchte man in Deutschland sämmtliche Bauhütten zu einer großen Gemeinschaft zu vereinigen, was jedoch trotz Kaiser und Papst nicht völlig gelang.

Schon die frühesten Genossenschaften waren gegliedert, an der Spitze stand der Meister, unter ihm die Gesellen und Lehrlinge, eine "Ordnung" regelte die Rechte und Pflichten der Angehörigen.

Diese Bauhütten waren zugleich auch die Bauschulen, denn nur innerhalb einer solchen konnte die Kunst erlernt werden. Die "Regeln" derselben, die durch Erfahrung oder Berechnung gewonnenen Lehrsätze, wurden daher auch als "Geheimnisse" behandelt, die nur den Mitgliedern zugänglich gemacht werden sollten. Wer sonach der Baukunst sich widmen wollte, mußte eine strenge Schulung durchmachen und die Sache gründlich erlernen; denn der Lehrling konnte Geselle, und dieser Meister nur nach abgelegter Prüfung werden. In dieser Art Schule mußte sich aber Jeder auch Handfertigkeit aneignen, denn die Lehre der Kunstregeln war mit wirklicher "grober" Arbeit verbunden. Die gründliche Kenntnis der Handarbeit, also der Behandlung des Stoffes, muß als ein nicht geringer Vorzug der Meister jener Zeit betrachtet werden. Das Formgefühl wurde dabei an den kleinen Einzelheiten geweckt und ausgebildet, und für die kühnen Gedanken der Baufügung eine höhere Grundlage gewonnen.

Die Baufügung. Wie vorhin schon betont wurde, liegt das Wesen des gotischen Stiles in der Baufügung, die ihm eigentümlichen reizvollen Schmuckbildungen stehen erst in zweiter Linie. Jene erfolgte ganz nach mathematischen Gesetzen - Berechnung - für welche man den passendsten Ausdruck in geometrischen Formen fand. Letztere bilden daher die Grundlage für die ganze Anordnung, für Grundplan sowohl wie für die Einzelheiten, ja selbst auch für die Gestaltung des Zierwerkes, bei welchem sie eine größere Rolle spielen, als die neben ihnen noch verwendeten pflanzlichen Formen. Die geometrischen Figuren, auf welche alles zurückgeführt wird, sind Dreieck und Viereck. Durch das Ineinanderlegen oder Durchdringen dieser Grundfiguren ergaben sich dann Sechseck und Achteck (Achtort), das letztere insbesondere nimmt eine hervorragende Stellung ein. Da alle Einzelheiten aus der Verbindung solcher einfacher geometrischen Figuren entwickelt wurden, ergab sich die strenge Gesetzmäßigkeit des ganzen Stiles, aus der erfindungsreichen Vielgestaltigkeit jener Verbindungen die Schönheit der Gesamtwirkung.

Auch in diesem Zeitraum sind es noch vorwiegend kirchliche Bauten, in welchen sich die Kunst bethätigte, obwohl weit mehr als in dem früheren auch weltliche künstlerisch gestaltet werden und somit den Stil zum Ausdruck bringen. Immerhin wird man dessen Eigenheiten am besten aus den Kirchenbauten erkennen und diese sollen daher zunächst betrachtet werden.

Der Grundriß. Der Grundriß der gotischen Kirche unterscheidet sich von dem der romanischen in wesentlichen durch zwei wichtige Neuerungen: Veränderung der Pfeilerstellung und Umgestaltung des Chores.