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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Die Malerei des 16. Jahrhunderts

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Die Malerei des 16. Jahrhunderts.

Lionardo da Vinci. Die Reihe dieser außerordentlichen Kunstmenschen eröffnet Lionardo da Vinci (1452-1519) - aus dem toskanischen Flecken Vinci - ein Schüler Verrocchios, im Alter von 20 Jahren bereits der Malergilde von Florenz angehörend. Seine Vielseitigkeit ist erstaunlich: Baumeister, Bildhauer, Maler, Festungsingenieur und Mechaniker, Naturforscher und Schriftsteller, dazu ein vollendeter Weltmann, mit höfischen Sitten und Geheimnissen der Staatskunst wohl vertraut. Es ist begreiflich, daß einem solchen Manne Zeit und körperliche Kraft fehlen mußte, um all das wirklich zu schaffen, was der nimmermüde Geist ersann und plante. In den thatsächlich ausgeführten Werken liegt auch weniger die Bedeutung Lionardos, als vielmehr in den Anregungen, welche er mit seinen Entwürfen gab. Sein Geist befruchtete alles um ihn her und zeugte in anderen die Thaten, die er selbst nicht ausführen konnte.

An Zahl vollendeter Arbeiten übertrifft ihn der Geringste seiner Zeitgenossen, an Fülle der Plan-Gedanken kommt ihm keiner gleich. Auch als Maler kann man ihn nur dann vollständig würdigen, wenn man auch seine Zeichnungen und Entwürfe studiert. Was wir aber von Gemälden seiner Hand besitzen, zählt zu den kostbarsten "Schätzen". Von seinem Lehrer hatte er nichts anderes angenommen als den Grundsatz von der Wertschätzung der Form. Wie weit er Jenen an malerischem Gefühl übertraf, zeigt schon der Engel auf dem Bilde Verrocchios (Fig. 355). Seine volle Unabhängigkeit tritt bereits in den frühesten Bildern zu Tage, sie lassen den Weg erkennen, auf welchem Lionardo zur Meisterschaft fortschreitet, die er im "Abendmahl" erreicht. Sie bekundet sich in der bisher unerreicht gewesenen Uebereinstimmung des Gedanklichen mit dem Formen-Ausdruck, in der Verbindung der vollen Lebenswahrheit mit der Vorstellung des urbildlich Schönen, in der Unterordnung einer ungemein sicheren Zeichnung unter die Gesetze der Farbenwirkung. Leidenschaftliche Vorgänge und bewegte Handlung weiß Lionardo mit ebenso edlem Maß wiederzugeben, wie die ruhigen Empfindungen einer hohen Seele deutlich zu veranschaulichen. Das "Abendmahl" und die Entwürfe zu dem Schlachtenbild "Sieg von Anghiari" geben für ersteres, seine Ebenbildnisse für das letztere eindringliches Zeugnis.

Unter den Bildnissen steht unstreitig die "Mona Lisa" (Gattin des Francesco del Giocondo) an erster Stelle. Es ist in diesem das Höchste erreicht, was im Begriffe von malerischer Schönheit liegt. Die Lebenswahrheit erstreckt sich nicht blos auf das Körper-^[folgende Seite]

^[Abb.: Fig. 508. Lionardo: Das Abendmahl.

Wandgemälde im Speisesaal des Klosters S. Maria della Grazie. Mailand.]