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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Das 19. Jahrhundert

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Das 19. Jahrhundert.

andere gab die Eigenfarben (Lokalfarben) der Gegenstände, also die wahren oder natürlichen, vermochte aber nicht, dieselben zusammenzustimmen; sie standen unvermittelt nebeneinander und wirkten daher hart. Es handelte sich nun darum, die Wahrheit der Eigenfarben festzuhalten und doch jene Zusammenstimmung zu erzielen, wie sie thatsächlich in der Natur erscheint. Dazu bedurfte es nur der Entdeckung, daß das natürliche Sonnenlicht, wie es in der Natur waltet, den Eigenfarben eine bestimmte Tönung (einen "Tonwert") verleihe, und daß in Wirklichkeit dann diese gleichzeitigen Tonwerte zusammenstimmen. Es läßt sich dies vielleicht in folgendem Satze verdeutlichen. Eine Wiese ist grün und ein Ziegeldach rot; dasselbe Grün und Rot erscheint dem Auge jedoch in verschiedenen Tönungen, je nachdem es Morgen, Mittag oder Abend ist, die Sonne von wolkenlosem Himmel herabstrahlt oder durch Wolken verhüllt ist. Das Grün am Morgen mag vielleicht saftiger und kraftvoller erscheinen, als in der Mittagssonnenglut, das Rot im Abendlichte weniger grell; die betreffenden Farbentöne würden aber nicht zusammenstimmen, dies ist nur der Fall, wenn man die gleichzeitigen wählt. Dies ist der Hauptgrundsatz und die wertvollste Errungenschaft der modernen Farbenkunst.

In der Entwicklung derselben lassen sich verschiedene Stufen unterscheiden. Zunächst begnügt man sich mit der einfachen Wiedergabe der Natur, einer getreuen Darstellung der wirklichen Erscheinung (Realismus); als man hierin die völlige Sicherheit erlangt hatte, konnte man einen Schritt weiter gehen und die Wirklichkeit nach dem Eindrucke, den sie auf das persönliche Empfinden des Künstlers gemacht hatte, selbständig wiedergeben (Impressionismus). Auf der letzten Stufe endlich gestattete die gewonnene Beherrschung der Ausdrucksmittel, selbstschöpferisch vorzugehen, aus der eigenen Einbildungskraft heraus eine Welt zu schaffen, welche alle Eigenschaften der Wirklichkeit besitzt, obwohl sie erdacht und erfunden ist. Dies ist der "moderne Idealismus", die Farbendichtung der Neuzeit.

Wenn ich im Vorstehenden im besonderen von der Entwicklung der Malkunst sprach, so ist dies dadurch gerechtfertigt, daß letztere im 19. Jahrhundert mehr als je die "führende" Kunst war und in ihr sich die allgemeine Richtung des "Kunstgeistes" am deutlichsten kundgiebt. Ich will daher auch gleich eine kurze Uebersicht ihres Entwicklungsverlaufes in den einzelnen Ländern hier anschließen.

Die Malerei in Frankreich. Der Hauptvertreter des Klassizismus in Frankreich war Jacques Louis David (1748-1825), der seine Gestalten nach antiken Standbildern zu zeichnen pflegte, ehe er sie in die Gewandung steckte. Unter seinen zahlreichen Nachfolgern erhob sich nur Jean Auguste Ingres (1780-1867) zu einer höheren Bedeutung, während ein anderer seiner Schüler, Antoine Jean Gros (1771-1835), bereits mit seinen die Thaten Napoleons I. verherrlichenden Bildern die realistische Richtung einschlug. Gleichzeitig trat Pierre Paul Prudhon (1758-1823) als Gegner der David-Schule auf, um im Geiste Lionardo da Vincis und Correggios das rein Malerische zu pflegen. Die Richtung von Gros setzte Theodore Géricault (1791-1824) fort, dessen Bild: "Das Floß der Medusa" das größte Aufsehen erregte und das Publikum für die neue Auffassung gewann. Er, noch mehr aber Eugene Delacroix (1799-1863) hatten sich die Farbenkunst des Rubens zum Vorbild genommen; letzterer erscheint nun als Hauptmeister der französischen Romantiker, welche dem "antiken" Kunstgeist den "germanischen" gegenüberstellten, und sich ihre Anregungen aus deutschen und englischen Dichtungen und von den Niederländern holten. Die moderne Landschaftsmalerei begründeten Theodore Rousseau (1812-1867) und Jean Baptist Corot (1796-1875), welche die "Stimmung" und die ganze Eigenart der Natur erfaßten und mit meisterhafter Farbenkunst wiedergaben. Die Geschichtsmalerei fand in Horace Vernet (1789-1863) und Paul Delaroche (1797-1856) ihre bedeutendsten Vertreter. In dem Vordergrund stand jedoch in der Zeit von 1830 bis nach 1860 die Sittenbildmalerei (Genre), auf deren Gebiete Ernst Meissonier (1815-1891) das hervorragendste leistete. Die Schilderung des bäuerlichen Lebens in Verbindung mit der Landschaft gab mit vollendeter Kunst François Millet (1814-75), der Hauptmeister des "Naturalismus", dessen Grundsatz: "Schön ist alles, was wahr ist, und nur das