Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Drama

113

Drama (allgemeine Gesetze und Aufbau).

nicht bloß aufeinander (in der Zeit), sondern auseinander (als Ursachen und Wirkungen) folgender Zustände, umfaßt, die ästhetische Forderung der Einheit der Handlung im D. Der kausale Zusammenhang der in demselben nacheinander vorgeführten Reden und Thaten erzeugt den Schein, als hätten wir eine im Vollzug begriffene, also gegenwärtige Handlung vor uns. Daher dürfen die einzelnen Teile der Handlung im D. nicht bloß (zeitlich) auf-, sondern sie müssen (kausal) aufeinander folgen, d. h. durch einander motiviert sein; "die Kategorie der Kausalität ist", wie Schiller an Goethe schreibt, "die Kategorie der Tragödie" und des Dramas überhaupt. Die Einheit der Handlung im D. ist nicht mit der Einheit der Person (des "Helden") zu verwechseln; letztere ist bloß episch, indem dieselbe Person Gegenstand sehr verschiedener, in der Zeit nacheinander folgender Begebenheiten sein kann, ohne daß diese letztern, wie es das D. verlangt, untereinander notwendig im Kausalzusammenhang stehen müssen. Dieselbe ist für das D. das wichtigste Erfordernis, schließt aber weder aus, daß der Haupthandlung Nebenhandlungen (Episoden) eingewebt werden (Max und Thekla im "Wallenstein"), noch, daß neben derselben eine zweite Handlung, gleichsam ein zweites D., für welches seinerseits wieder die Forderung der Einheit der Handlung gilt, gleichzeitig ablaufe (das D. im Haus Glosters neben jenem im Haus Lears bei Shakespeare). Dramen mit einer einzigen Handlung heißen einfache, solche mit doppelter und mehrfacher Handlung zusammengesetzte; von ersterer Art sind die meisten antiken und die "klassischen" Dramen der Franzosen, von letzterer die meisten spanischen (besonders im Lustspiel, wo die Handlung der Diener jene der Herren kopiert) und englischen, besonders Shakespeares. So gerechtfertigt die Forderung der Einheit der Handlung ist, die schon Aristoteles in seiner Lehre von der Tragödie allen andern voranstellte, sowenig ist es die von den französischen Ästhetikern (infolge ihres Mißverständnisses der "Poetik" des Aristoteles als angeblich von diesem stammend) aufgestellte Forderung der sogen. "Einheit der Zeit und des Ortes" im D. Unter jener verstanden sie, daß die wirkliche Dauer der nachahmenden Handlung jene der nachgeahmten entweder gar nicht, oder daß letztere doch nicht den Zeitraum eines Sonnentags (24 Stunden) überschreiten dürfe; unter dieser, daß die nachgeahmte und demgemäß auch die nachahmende Handlung, das D., während ihrer ganzen Dauer an demselben Ort vor sich gehen müsse. Dramen wie Shakespeares "Macbeth", dessen Handlung seine ganze Regierungszeit (18 Jahre) umfaßt, oder "König Lear", der teilweise in Frankreich, teilweise in England spielt, galten ihnen für unerlaubt, weil sie dem Zuschauer zumuten, in Gedanken weite Zeiträume und große Länderdistanzen zu überspringen. Der Erfolg bewies aber, daß sich die Einbildungskraft dergleichen Gedankensprünge über Zeit und Raum hinweg gern gefallen läßt, wenn die psychologischen Bedingungen der Motivierung der Handlungen der Personen durch deren Charakter und Situation genau eingehalten werden. Letztere bilden den Hebel der fortschreitenden Handlung; die durch das Frühere als Grund erregte Erwartung des Spätern als dessen Folge macht die dramatische Spannung im Zuschauer, dagegen die durch seine Handlungsweise (seine That als Ursache) auf sich gezogene Folge (sein Los als Wirkung) das dramatische Schicksal für den "Helden" aus (nach Schillers Wort: "In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne"). Da beide auf der Voraussetzung strengen kausalen Bedingtseins aller Teile des vor unsern Augen sich vollziehenden Geschehens beruhen, so wird durch die Herrschaft des Zufalls im D. die Spannung in bloße Neugierde, durch die Aufhebung des Kausalzusammenhangs zwischen That und Los das Schicksal in Laune und Willkür verwandelt. Beides ist gleich undramatisch, im Komischen aber, dessen Charakter nach Aristoteles unschädliche Ungereimtheit ist, noch eher zulässig als im Tragischen, dessen Wesen nach ebendemselben darin besteht, daß es Furcht und Mitleid weckt. Die Aufhebung des Kausalgesetzes durch Laune und Zufall ist selbst ungereimt und kann, vorausgesetzt, daß sie keinen (zu großen) Schaden stiftet, Lachen erregen; das unverdiente, d. h. unmotivierte, Schicksal aber ist ungerecht und erzeugt, wenn es traurig ist, als grund- und zwecklose Grausamkeit Empörung (Müllners und Werners sogen. Schicksalstragödien). Da der Fortschritt im D. von den Gründen zu den Folgen (progressiv) erfolgt, so müssen zuerst jene, wie sie in den Charakteren und in der Situation der handelnden Personen gegeben sind, auseinandergesetzt und dann ihrer eignen treibenden Kraft, die zu diesen führt, überlassen werden. Jenes geschieht am Anfang (Exposition), diese erfolgen im ganzen Umfang am Schluß des Dramas (Katastrophe); der zwischen beiden gelegene Zeitpunkt, in welchem die Schicksalswendung (zum Bessern oder Schlimmern) eintritt, heißt die Peripetie. Diese drei Hauptteile der fortschreitenden Handlung, welche in keinem D. fehlen dürfen, können je nach der größern oder geringern Ausdehnung derselben durch Abschnitte der Dichtung (Akte, bei der theatralischen Aufführung Aufzüge genannt) sichtbar gemacht oder in ununterbrochener Folge (einaktige Dramen) aneinander gereiht werden. Zwischen dieselben werden bei Erweiterung der Handlung weitere Akte eingeschoben, in der Regel in der Weise, daß die Gesamtzahl der Akte eine ungerade bleibt (meistens fünf; in den Dramen der Inder und Chinesen steigt die Zahl, bei den letztern bis zu 21). Die Erweiterung der Handlung wird durch Einführung von Elementen herbeigeführt, die den Vollzug der Handlung verzögern (retardierende), die Beschränkung derselben durch solche, die ihn beschleunigen (accelerierende Elemente). Aus dem Widerstand der erstern und dessen Besiegung durch die letztern geht das Tempo der Handlung gewöhnlich in der Art hervor, daß im ersten, dritten und fünften Akte die vorwärts dringenden, im zweiten und vierten die Widerstand leistenden Faktoren die Oberhand haben. So bilden im "Wallenstein" die immer von neuem auftauchenden Bedenken des Helden das retardierende, die Aufstachelungen seiner Genossen das accelerierende Element seines Treubruchs, seine Gewalt über das Heer das verzögernde, die Macht seiner Feinde das beschleunigende Element seines Untergangs. Die Abwechselung der beiden den vermuteten Ausgang bald aufhaltenden, bald näher rückenden Faktoren in der Zeit, die sich mit der Systole und Diastole des Blutumlaufs vergleichen läßt, gibt dem Gang des Dramas jenen Schein organischen Lebens, auf welchem hauptsächlich sein Reiz und seine anschauliche Gegenwart beruhen. Es ist, als ob wir im innersten Kern der sich entwickelnden Dinge ständen und unter gläserner Hülle ihrem Werden zuschauten. Erhöht wird der Reiz durch alles, was diesen Schein der Gegenwärtigkeit vermehrt, also nicht bloß durch die Richtigkeit der Motivierung des Verlaufs der Handlung durch die Handlungen der im Handeln begriffenen Personen sowie dieser Handlungen durch Charakter und Situation der letz-^[folgende Seite]