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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Artillerie

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Artillerie.

v. franz. Artiller, s. v. w. Stückgießer, auch Geschützsoldat, welches zuletzt auf das lat. ars, eigentlich "Kunst", im Mittelalter auch s. v. w. Geschütz, zurückführt). Das Wort A. bezeichnet sowohl das gesamte Material einer Heeresmacht an Geschützen, Fahrzeugen, Munition etc., als auch die Truppe, deren Waffe das Geschütz ist, und welche letzteres im Frieden und Krieg zu verwalten, zu handhaben und zu gebrauchen hat, und drittens die Wissenschaft, welche der Theorie und Praxis des gesamten Geschützwesens gewidmet ist. Über das Material der A. s. Geschütze. Der Verwendung nach unterscheidet man Land-, Küsten- und Schiffsartillerie. Letztere wird von den Matrosen der Kriegsschiffe, die Küstenartillerie von der Fußartillerie und nur in den Kriegshäfen Kiel und Wilhelmshaven von der Matrosenartillerie bedient.

Die Landartillerie findet als Festungs- und Belagerungsartillerie Verwendung im Festungskrieg, als Feld- und Gebirgsartillerie im Verband der Feldarmeen. Die Organisation einer den letztern gleichfalls beizugebenden Positionsartillerie zur Beschießung von Sperrforts und provisorischen Befestigungen steht in Aussicht.

Die Festungsartillerie, in Deutschland Fußartillerie genannt, in Regimenter, Bataillone und Kompanien formiert, ist für ihre artilleristische Thätigkeit gebunden an das getrennt von der Truppe bestehende schwere, zum Teil wenig bewegliche Geschützmaterial, mag dasselbe in Festungen und Küstenbatterien zur Verteidigung oder vor Befestigungen als Belagerungsartillerie zum Angriff verwandt werden, oder auch vorübergehend einmal (wie 1871 an der Lisaine, westlich von Belfort) in einer Feldschlacht mitwirken. Die Truppen der Festungsartillerie führen in den meisten Ländern auch Handfeuerwaffen und zwar Gewehre oder Karabiner.

Die Feldartillerie, jetzt die dritte Hauptwaffe der Feldarmeen, ist bestimmt, den andern Waffen überallhin auf das Gefechtsfeld zu folgen; sie ist formiert in Batterien, in denen eine bestimmte Anzahl (4, 6-8) Geschütze mit Bespannung, Bedienung, Munition und den zugehörigen Munitions- und Ökonomiewagen (Vorratswagen, Feldschmiede) zu einer taktischen Einheit dauernd verbunden sind. Nach der Art der Ausrüstung dieser Batterien unterscheidet man reitende A., deren Bedienungsmannschaften sämtlich beritten sind, früher auch fahrende A. (in Österreich), bei der die Bedienung auf sogen. Wurstwagen gefahren wurde; Fußartillerie in Deutschland, schlechtweg Feldbatterien, deren Bedienungsmannschaft nicht beritten ist, die aber bei allen schnellen Bewegungen auf Protze und Geschütz (früher auch auf die Handpferde der Bespannung) aufsitzt; endlich Gebirgsartillerie, deren Geschütze etc. zerlegbar sind, und deren gesamtes Material auf Tragtieren (Pferden, Maultieren) fortgeschafft wird. Die Batterien sind zu Abteilungen, Regimentern und Brigaden vereinigt. Nach der Zuteilung zu den höhern Truppenverbänden unterscheidet man Divisionsartillerie und Korpsartillerie, resp. Reserveartillerie. Über die Organisation in den einzelnen Heeren s. bei den betreffenden Staaten, Heerwesen.

Von den drei Waffen der Feldarmee ist die A. die komplizierteste (Mann, Pferd, Geschütz) und bedarf dazu noch eines großen mitzuführenden Trains; in Deutschland z. B. gehören zur Batterie von 6 Geschützen noch 12 andre Fahrzeuge (8 Munitions-, 3 Vorratswagen, 1 Feldschmiede), ganz abgesehen von den Munitionskolonnen; sie ist schwer auszurüsten, immerhin aber in modernen Kulturstaaten leichter aufzubringen als Kavallerie, die gut dressierter Pferde und geübter Reiter bedarf. Ja der Wirkung übertrifft sie die Infanterie an Schußweite und Zerstörungskraft der Geschosse, doch fehlt ihr die Fähigkeit zum Nahkampf, bei jeder Bewegung ist sie wehrlos; die Bewaffnung der berittenen Mannschaften mit Revolvern, der Fußmannschaften mit Karabinern in Frankreich ist nur Notbehelf. Sie bedarf bei direkter Bedrohung und im Sicherheitsdienst des Schutzes andrer Waffen; in ihren Bewegungen kommt sie an Schnelligkeit der Kavallerie fast gleich, Terrainschwierigkeiten überwindet sie oft leichter als diese, dank dem am Geschütz mitgeführten Schanzzeug. Im Gefecht verliert die A. meist weniger als die andern Waffen und Verluste beeinträchtigen ihre Gefechtsthätigkeit erst nach und nach; selbst mit der Hälfte der Bedienungsmannschaften und Pferde kann eine Batterie noch alle ihre Geschütze im Feuer erhalten.

Das Stärkeverhältnis der A. zu den andern Waffen im Heer hat vielfach gewechselt. Bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts rechnete man 2-3 Fußgeschütze auf je 1000 Mann Infanterie, ebensoviel reitende Geschütze auf je 1000 Pferde, im Feld steigt dies Verhältnis von selbst durch die Verluste der andern Waffen bei gleichbleibender Geschützzahl. Seit 1870 haben alle Heere ihre A. vermehrt, durch die erhöhte Zahl der Bataillone aber und durch im Kriegsfall zu erwartende Neuformation von solchen ist das Verhältnis nicht wesentlich geändert; s. nachstehende Tabelle:

Gefechtsstärke eines Armeekorps

Infanterie Kavallerie Zusammen Feldartillerie Im Krieg bestehen

Regimenter Bataillone Mann Regimenter Eskadrons Mann Mann Batterien Geschütze à Batterie Zus. pro 1000 Mann (1) Feld-Batterien (2) reitende Gebirgs- Geschütze

Deutschland 8 25 25000 2 8 1200 26200 16 6 96 3,8 294 46 - 2040

Österreich 8 30 27000 2 12 1800 28800 11 8 88 3,0 185 10 (3) 23 (4) 1632

Italien 8 24 19200 2 8 1440 23840 (5) 10 8 80 3,3 120 4 (6) 8 (6) 1032

Frankreich 8 25 25000 2 8 1200 26200 16 6 96 3,8 345 57 6 2448

Rußland 8 32 28000 4 18 2700 30700 16 6 96 3,2 429 71 18½ 3808

(1) Die reitenden Batterien bei den Kavalleriedivisionen sind hier nicht berücksichtigt; s. Heerwesen der einzelnen Staaten. - (2) Bei Frankreich sind 76, bei Rußland 144, bei Deutschland keine Reservebatterien eingerechnet. - (3) à 6 Geschütze. - (4) à 4 Geschütze. - (5) Einschließlich 1 Regiment Bersaglieri. - (6) à 6 Geschütze.

[Geschichtliches]. Über die bis in das Altertum zurückreichenden Anfänge des Geschützwesens s. Geschütze. Die ersten Pulvergeschütze wurden bei Belagerungen gebraucht, wo sie in den Mauern der Burgen und Städte die Ziele fanden, deren Zerstörung man mit ihrer Hilfe leichter und aus größerer Ferne zu bewerkstelligen hoffte, als dies mit den bisherigen Kriegsmaschinen möglich war. Bald indes hat sich