Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Roman

916

Roman (Unterscheidung vom Epos etc.; Arten des Romans)

von Erscheinungen, z. B. der Liebesleidenschaft) geschwunden, der Reiz des Übernatürlichen und die Sehnsucht nach demselben aber geblieben ist, und dessen künstlich erneuerter Schein daher wohlgefällig fesselt. Lebensverwickelungen, welche den Schein einer übernatürlichen Schickung erwecken, werden daher wohl "romanhaft", eine Gemütsstimmung, welche am Schein der Existenz eines Übernatürlichen Vergnügen findet, wird "romantisch" genannt. Die Weltanschauung, die dem R., der nur natürliche Ursachen des Verlaufs menschlicher Dinge gestattet, zu Grunde liegt, ist durchaus nüchtern (philosophisch), jene, welche dem Epos, das Übernatürliches zuläßt, zu Grunde liegt, gehoben (theologisch). Jener betrachtet alle Begebenheiten, die er erzählt, wie das Drama (s. d.), als unter dem Kausalgesetz, das Epos dagegen, kraft seines religiösen Standpunktes, als unter dem Willen einer höhern Macht stehend. Das Verhältnis des Helden des Epos zu der sein Schicksal leitenden Macht ist das eines Menschen zur Gottheit, eines Niedern zum Höhern, eines Dieners zum Herrn (oder Herrin: Achilleus und Pallas, Odysseus und Athene). Das gleiche Verhältnis des Helden des Romans kann nur das eines Menschen zu sich selbst (seinem Naturell, seiner beherrschenden Leidenschaft) oder zu der ihn umgebenden Natur- und Menschenwelt sein. Aus dem letztern Umstand entspringt die Einteilung der Romane in Charakter- und Situationsromane, je nachdem die natürliche Ursache der Schicksale des Helden in dessen persönlichem (angebornem oder erworbenem) Naturell oder in dessen äußerer natürlicher oder Menschenumgebung gelegen vorgestellt wird. Jener kann psychologisch heißen, wenn er das Schicksal des Helden aus dessen Abhängigkeit von seiner Gesamtanlage, pathologisch, wenn er dasselbe aus dessen Beherrschtsein durch einen einzelnen Charakterzug (eine Leidenschaft, z. B. die Liebe: Liebesroman) zu erklären sucht. Der Situationsroman verlegt den Grund der Lebensereignisse entweder in die Natur (Einfluß der Natur auf Rousseaus "Neue Heloise", Goethes "Werther") oder in die Gesellschaft, innerhalb deren er den Helden denkt (Gesellschaftsroman, sozialer R.). Je nachdem die Situation, welche das Schicksal des Helden macht, als unabhängig von ihm gegeben oder mit Rücksicht auf ihn durch andre (irdische Vorsehung) künstlich veranstaltet angenommen wird, zerfällt derselbe in zwei Klassen. Zu der erstern gehören der Reiseroman, welcher den Lebenslauf des Helden unter dem Einfluß der örtlichen Natur, und der geschichtliche R., welcher denselben unter dem Einfluß einer bestimmten Zeit- und Kulturepoche, zu der letztern der pädagogische R. ("Wilhelm Meister"), welcher ihn unter dem Einfluß eines im geheimen thätigen, erziehenden Menschenbundes ("Unsichtbare Loge", "Ritter vom Geist") schildert. Noch sind von den Romanen mit einfacher Begebenheitsreihe (und einem einzigen Helden) die Romane mit zwei- und mehrfacher Reihe von Begebenheiten (zwei und mehreren Helden) zu unterscheiden, welche entweder, wie in dem von Gutzkow so genannten "R. des Nebeneinander", parallel ("Ritter vom Geist", Heyses "Kinder der Welt") oder (wie in Freytags "Ahnen") nacheinander (in verschiedenen Generationen) ablaufen. Sollen jedoch die Teile des Romans dabei nicht (in einen Novellencyklus, wie Steffens' "Vier Norweger") auseinander fallen, so müssen die verschiedenen Helden untereinander entweder durch ein geistiges (wie in den "Rittern vom Geist") oder durch ein Blutband (wie in den "Ahnen") zusammenhängen. Hinsichtlich der sprachliche Form kann der R. seiner Eposnatur halber ebensogut in gebundener (Becks und Schacks "Romane in Versen") wie seiner nüchternen Grundansicht halber in ungebundener Rede abgefaßt sein, letztere ist bei weitem die vorwiegende. Während das Epos, dessen waltende Macht eine Götterwelt ist, einen Heros (Achilleus, Odysseus, Rama, Rustem etc.) zum Helden hat, muß der R., dessen waltende Macht eine berückende Leidenschaft, der Einfluß des Ortes, der Zeit oder gar einer geheimen Gesellschaft ist, einen "Romanhelden" (oder Heldin) wählen, der sich von solchen beherrschen läßt. Diese menschliche Schwäche sowie der durchaus dem Kreis der natürlichen Dinge entnommene Charakter der wirkenden Ursachen befähigen den R. wie keine andre epische Dichtungsart (die Novelle ausgenommen), das Bild einer Welt wie die unsre (Welt des modernen Bewußtseins) gewürzt und belebt durch den Schein des Wunderbaren und mit dem Reiz der Spannung auf die natürliche Lösung des Rätsels zu entwerfen. Wie daher einst das religiöse Bewußtsein das Bild der realen (seienden) wie das der idealen (sein sollenden) Welt episch in die Form des Epos, so faßt das moderne Bewußtsein beide in die Form des Romans, welcher dadurch eine lehrhafte Tendenz annimmt und auf das Gebiet der sogen. didaktischen Poesie (theoretische wie praktische Belehrung in Romanform) übertritt. In dieser Gestalt, welche den verschiedensten stofflichen Inhalt bequem aufzunehmen vermag, ist der R. die gesuchteste und beliebteste Dichtgattung geworden, hat aber über dem mehr oder minder schwerfälligen Gehalt nicht selten den Reiz der poetischen Form eingebüßt. Eine Einteilung desselben vom stofflichen Gesichtspunkt aus zu geben, ist ein hoffnungsloses Beginnen. Unterscheiden lassen sich allenfalls der realistische R., der die wirkliche Welt naturhistorisch (mit größter Treue, ohne Neid und ohne Gunst) schildert, und dessen Ausartung, der naturalistische R., das Schlechte in der bestehenden Welt nicht nur schonungslos schildert, sondern mit Vorliebe sucht (Zola), und der moralische oder Idealroman, der das Bild einer vollkommensten Welt ohne Rücksicht auf deren Realität ausmalt. Zu jener Gattung gehört nicht nur der sogen. historische Kultur- und zeitgenössische Sittenroman, deren ersterer die Menschheit irgend einer Kultur- und Bildungsstufe, deren letzterer seine (des Romanschriftstellers) Gegenwart mit minutiöser Sorgfalt porträtiert, sondern auch das sogen. Zukunftsbild oder das Romanidyll und der philosophische R., deren erstes das Bild der Welt ausmalt, wie es (der Ansicht des Autors nach) einst sein wird, während der andre den ewig gleichen Kern der Welt und des Menschen darzustellen sich vorsetzt. Zu dieser Gattung gehören die zahlreichen Tugend- und Fürstenspiegel sowie die Staatsutopien, Gesellschaftsikarien in Romanform, welche dazu bestimmt sind, dem Einzelnen und der Gesamtheit als Beispiel vorzuleuchten. Wie durch die beiden vorgenannten Gattungen das unterrichtete, so betritt der R. als moralisierender oder Tendenzroman das erziehende Gebiet, wobei er entweder (optimistisch) an die Möglichkeit des Gelingens des Besserungswerkes glaubt oder (pessimistisch) dessen Unmöglichkeit einsieht. Im erstern Fall sucht er strafend (satirischer R.) oder spottend (komischer R.) auf die Menschheit zu wirken; im letztern Fall gesellt sich zu dem an die Stelle des Zorns oder Spottes über die andern tretenden Mitleid mit deren Schwächen der Spott über sich selbst, dessen Thorheit das Unmögliche für möglich hielt (humoristischer