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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Belgien (Geschichte)

Zahl der Einleger im Zeitraum 1880-88 von 200,585 auf 598,675, ihr Guthaben von 125 Mill. auf 260 Mill. Fr. gestiegen; über die Hälfte der Einzahlungen wurden 1888 bei den Postanstalten gemacht. Das Budget für 1889 belief sich in den Einnahmen auf 330,514.902 Fr., in den Ausgaben auf 322,414,138 Fr.; die Staatsschuld im Betrag von 2180 1/6 Mill. Fr. erforderte für Zinsen und Amortisation 81 Mill. Fr.

Geschichte. Die Kammern erteilten 1885 beinahe einhellig dem König Leopold II. die verfassungsmäßige Zustimmung zu der Übernahme der Souveränität über den von der Berliner Konferenz geschaffenen Congostaat. Die klerikale Regierung entwickelte für die Durchführung des neuen Schulgesetzes eine rastlose Thätigkeit. Ende 1885 waren von den 1884 bestehenden 1933 Staatsschulen bereits 877 beseitigt, dagegen 1465 Klosterschulen (mit 2758 Mönchen und Nonnen) als öffentliche Schulen anerkannt; 880 Lehrer waren entlassen und mit einem dürftigen Wartegeld abgefertigt, 5816 in ihrem Gehalt verkürzt. Wo eine Ortsverwaltung sich weigerte, den Anforderungen der von der Geistlichkeit beherrschten Hausväter hinsichtlich der Schule nachzukommen, zog die Regierung die Staatsunterstützung für die Schule zurück, und 700 Gemeinden sahen sich genötigt, ihre eignen Auflagen zur Deckung des Ausfalls zu erhöhen, während der Finanzminister durch die Ersparnisse auf dem Gebiet des öffentlichen Unterrichts das gestörte Gleichgewicht im Staatshaushalt herzustellen in der Lage war. Während die herrschenden Parteien alle ihre Kraft und Aufmerksamkeit auf den Kampf um die Schule gerichtet hatten, war die Lage der Arbeiter in den Bergwerken und Fabriken, besonders in den wallonischen Provinzen, unbeachtet geblieben, obwohl dieselbe wegen der Niedrigkeit der Löhne und der Ausbeutung der Arbeiterbevölkerung beim Einkauf ihrer Bedürfnisse eine sehr drückende war. Sozialistische Agitatoren, namentlich der verkommene Advokat Defuisseaux durch seinen "Volkskatechismus", hatten seit langem die Arbeiter aufgereizt, und im März 1886 kam die Unzufriedenheit zuerst in Lüttich, dann in dem Distrikt von Charleroi zum Ausbruch. Hier zündeten die von den Glasbläsern aufgestachelten Kohlenarbeiter eine große Glasfabrik an. Die Regierung ließ das ganze Revier durch Truppen unter General u. d. Smissen besetzen, und als die Arteiter ihr Zerstörungswerk fortsetzten, kam es zu blutigen Zusammenstößen, bei denen gegen 30 Menschen unter den Kugeln der Soldaten fielen. Erst nach längerer Besetzung des Distrikts wurde die Ruhe völlig hergestellt. Die Regierung gab sich den Anschein, als erkenne sie, daß mit dem bisherigen System des manchesterlichen Geschehenlassens gebrochen werden müsse, und setzte einen Ausschuß zur Prüfung der gewerblichen Verhältnisse ein; auch kündigte sie bei Eröffnung der Kammern einige sozialpolitische Reformen an. Da jedoch die herrschenden Persönlichkeiten der klerikalen Partei zu der Plutokratie selbst gehörten, so war es ihnen mit diesen Reformen um so weniger ernst, als der Ausfall der Neuwahlen im Juni 1886 die Herrschaft des ultramontanen Ministeriums durch Vermehrung der ultramontanen Kammermehrheit für längere Zeit befestigte. Die Liberalen waren noch immer durch den Zwiespalt zwischen den Gemäßigten und den Radikalen geschwächt; der Führer der letztern, Janson, versuchte immer wieder den Gemäßigten seinen Willen aufzuzwingen und ließ sich sogar mit den Sozialisten ein, deren Verlangen nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts von den Radikalen gebilligt

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wurde. Außerdem schädigten sich die Liberalen durch die entschiedene Feindseligkeit ihrer wallonischen Mitglieder gegen die Wünsche der Vlämen. So kam es, daß sie eine ganze Reihe von Sitzen verloren und die ultramontane Mehrheit in der Kammer auf 96 Mitglieder stieg.

In ihrer Herrschaft durch den neuen Wahlsieg gesichert, wies die Kammer alle Zugeständnisse an das Volk Zurück. Ein Antrag des übrigens klerikalen Grafen d'Oultremont auf Einführung der allgemeinen persönlichen Dienstpflicht, welche zugleich die niedern Volksklassen entlasten wie das Heer verbessern und vermehren sollte, wurde 1887 abgelehnt. Von sozialpolitischen Reformgesetzen wurden 1887 nur wenige nicht erhebliche vorgelegt: das Verbot der Lohnzahlung in Waren und der Pfändung der Löhne, die Besteuerung der öffentlichen Trunkenheit und einige Repressivgesetze. Zum Schutz der Neutralität Belgiens wurde die Anlage neuer Festungswerke an der Maas und die Beschaffung von schweren Geschützen genehmigt. Merkwürdigerweise bekämpften Frère-Orban und ein Teil der Linken die Festungsvorlage aufs hartnäckigste, und trotz der für sie so ungünstigen Ergebnisse der letzten Wahlen in Flandern widersetzten sich die wallonischen Liberalen, besonders Vara, jedem Vorschlag, der auf Gleichberechtigung der Vlämen mit den Wallonen hinsichtlich der Sprache gerichtet war. Die Regierung und die Klerikalen zeigten sich in dieser Hinsicht verständiger, und wie der König und der mutmaßliche Thronfolger, Prinz Balduin, das vlämische Volk 1887 durch Ansprachen in niederdeutscher Sprache erfreuten, so wurde diese auch in Schule, Verwaltung und Heer mehr und mehr als gleichberechtigt anerkannt und auch für die Offiziere die Kenntnis der niederdeutschen Sprache bis zu einem gewissen Maß verbindlich gemacht. Ende 1888 wurde ferner trotz des heftigsten Widerstandes der wallonischen Advokaten ein von Coremans und Devigne beantragtes Gesetz in beiden Kammern angenommen, wonach das Vlämische vor Gericht dem Französischen gleichgestellt wurde. Im übrigen war das Bestreben des Ministeriums, in welchem der Minister des Innern, Thonissen, 24. Ott. 1888 durch den bisherigen Justizminister de Volder und dieser durch den berühmten Advokaten Leieune, der keineswegs als klerikal galt, ersetzt wurde, nur darauf gerichtet, sich im Amt zu erhalten und jedem prinzipiellen Kampf auszuweichen. Daher erlahmte auch die liberale Opposition und machte den Klerikalen bei den Neuwahlen im Juni 1888 den Sieg kaum mehr streitig. In der Deputiertenkammer standen nun 97 Klerikale 41 Liberalen gegenüber; im Senat gab es neben 50 Klerikalen nur noch 19 Liberale, ein Verhältnis, wie es so ungünstig noch nie bestanden hatte. Die Gesetzvorschläge zum Schutz der Arbeiter rückten aber nicht vorwärts, obwohl sich die Unruhen ini Kohlenrevier im Mai 1887 wiederholt hatten; nur die Einführung von Einigungsämtern, ein Gesetz über Arbeiterwohnungen u. ein wenig wirksames Gesetz zum Schutz der Frauen und Kinderarbeit wurden beschlossen. Einen förmlichen Heeresrekrutierungs-Gesetzentwurf, den d'Oultremont 1887 vorlegte, lehnten die Klerikalen in der Zweiten Kammer 14. Juli nach langen Debatten mit 69 gegen 62 Stimmen ab, obwohl der König und alle Generale eine Heeresreform, welche die niedern Klassen durch Heranziehung auch der Wohlhabenden zur Dienstpflicht versöhnte und die gebildeten Elemente im Heer vermehrte, wiederholt für notwendig erklärten. Ebensowenig war die herrschende Partei