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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutschland (Geschichte 1886, 1887).

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Deutschland'

Anmerkung: Fortsetzung von [Geschichte.]

ein unbedeutender Zwischenfall den Ausbruch eines Kriegs veranlassen konnte. Schließlich ließ die französische Regierung den Plan fallen.

Jedenfalls war die Lage bei dem Mißtrauen Rußlands und der feindseligen Haltung Frankreichs, trotzdem schon 15 Jahre seit dem Frankfurter Frieden verflossen waren, so gespannt, die Heeresverstärkungen beider Mächte so bedrohlich, daß die Reichsregierung, um im Notfall nach Osten und Westen zugleich Front machen zu können, eine Sicherstellung der Wehrkraft des Reichs für notwendig hielt. Die Thronrede, mit welcher Staatssekretär v. Bötticher 25. Nov. 1886 die neue Session des Reichstags eröffnete, kündigte die Vorlage hierüber an. Es sollte eine Erneuerung des 1880 festgesetzten Septennats, das noch bis 31. März 1888 galt, schon vom 1. April 1887 ab bis 31. März 1894 eintreten und gleichzeitig für diese Zeit die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heers wiederum auf 1 Proz. der 1885 festgestellten Bevölkerungszahl, also auf 468,409 Mann (ausschließlich der Einjährig-Freiwilligen), 41,135 Mann mehr als bisher, festgestellt werden; 31 Bataillone und 24 Batterien sollten neu errichtet werden. Die laufenden Mehrausgaben sollten durch Erhöhung der Matrikularbeiträge, die einmaligen durch eine Anleihe aufgebracht werden; auf die Einbringung neuer Steuervorlagen verzichtete die Regierung nach ihren bisherigen Erfahrungen. Die Reichstagsmehrheit, welche aus dem Zentrum, den Deutschfreisinnigen und den Sozialdemokraten nebst Welfen, Polen und Elsässern bestand, und welche ihre Aufgabe darin gesehen hatte, der Reichsregierung, namentlich dem Reichskanzler, das Leben sauer zu machen, glaubte anfangs die Wehrvorlage verschleppen zu können. Sie verwies sie 3. Dez. an eine Kommission, in welcher sie die Mehrheit hatte, und in der daher langwierige Erörterungen über militärische Fachfragen gepflogen wurden, so daß man erst 17. Dez. zum Ende der ersten Lesung und zum Beschluß gelangte, eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um 13.000 Mann auf drei Jahre, um weitere 9000 Mann auf ein Jahr zu bewilligen, was der Kriegsminister Bronsart als unannehmbar bezeichnete. Darauf wurden 18. Dez. die Verhandlungen der Kommission bis nach Weihnachten vertagt. Während der Weihnachtsferien erhob sich in einem großen Teil des deutschen Volkes ein ähnlicher Entrüstungssturm wie 1884. Zahlreiche Adressen und Petitionen sprachen ihre Zustimmung zur Wehrvorlage aus, und ganz besonders wurde das Verhalten der deutschfreisinnigen Fraktion als unpatriotisch getadelt, auch von bisherigen Anhängern derselben. Rußland aber und Frankreich beeilten sich, ihre Friedensliebe zu versichern, jenes durch ein »Mitgeteilt«, welches 15. Dez. 1886 im russischen Regierungsanzeiger erschien, welches aber von der »Moskauer Zeitung« Katkows nicht abgedruckt wurde, dieses durch den Mund Boulangers, welcher bei der Preisverteilung an die Französische Rettungsgesellschaft eine von Friedensversicherungen überfließende Rede hielt.

Auch der alte Kaiser war von dem Verhalten des Reichstags in der Wehrvorlage schmerzlich berührt worden, und nach dem Wiederzusammentritt des Reichstags (4. Jan. 1887) beschleunigte wenigstens die Kommission die Beratung des Gesetzes so, daß die zweite Lesung im Plenum 11. Jan. beginnen konnte. Zwei der oppositionellen Fraktionen, das Zentrum und die Deutschfreisinnigen, hatten sich aber dem Eindruck, welches ihr Verhalten vor Weihnachten beim deutschen Volk hervorgebracht hatte, nicht entziehen können und beschlossen, im Notfall 468,409 ↔ Mann auf drei Jahre zu bewilligen; sie wollten also das seit 1874 geltende Septennat in ein Triennat verwandeln, erklärten aber auch dies für ein großes Zugeständnis, da eigentlich die jährliche Bestimmung der Friedenspräsenzstärke konstitutionell sei und durch diese die Einführung der zweijährigen Dienstzeit erreicht werden müsse. Nachdem Feldmarschall Graf Moltke 11. Jan. die Wehrvorlage der Regierung in klarer, sachlicher Weise verteidigt und darauf hingewiesen hatte, daß D. stark und kriegsgerüstet sein müsse, wenn es seine Aufgabe, den Frieden in Europa aufrechtzuerhalten, mit Erfolg durchführen solle, daß aber Bewilligungen auf kurze Frist nichts nützten, daß der Reichstag jetzt, da die Augen Europas auf ihn gerichtet seien, zeigen müsse, daß Volk und Regierung einig seien: hielt Bismarck eine seiner glänzendsten, wirkungsvollsten Reden, in welcher er einerseits die Schwierigkeiten der auswärtigen Lage, namentlich die von Frankreich stets drohende Gefahr, und die Furchtbarkeit des nächsten Kriegs schilderte, anderseits sehr geschickt für die Regierung das Verdienst in Anspruch nahm, daß sie, um einen Konflikt zu vermeiden, an dem frühern Kompromiß des Septennats treu festhalte, während Windthorst und Richter nebst ihren Anhängern den Stand des Heers von den wechselnden Majoritäten und den Beschlüssen des Parlaments abhängig machen und das kaiserliche Heer in ein Parlamentsheer verwandeln wollten; zum Schluß erklärte er, daß, wenn der Reichstag nicht durch eine baldige und vollständige Annahme der Vorlage die Sorgen der verbündeten Regierungen um die Wehrhaftigkeit Deutschlands beseitige, diese es vorzögen, die Unterhandlungen mit einem andern Reichstag mit größerer Aussicht auf Erfolg fortzusetzen. In der That konnte, wie die Deutschfreisinnigen zu spät einsahen, die Reichsregierung eine bessere Wahlparole als die Militärvorläge gar nicht finden. Windthorst versicherte zwar, seine Partei wolle ja jeden Mann und jeden Groschen bewilligen und also das Reich nicht wehrlos machen, während die Deutschfreisinnigen den Antrag, eine Reichseinkommensteuer zur Deckung der Kosten einzuführen, dazwischenwarfen. Der Reichskanzler beharrte dabei, daß jede Bewilligung für weniger als sieben Jahre unannehmbar sei, und als 14. Jan. dennoch der Stauffenbergsche Antrag, 468,409 Mann bis 31. März 1890 zu bewilligen, mit 186 gegen 154 Stimmen angenommen wurde, verkündete Bismarck sofort die Auflösung des Reichstags.

So war denn der Reichstag, welcher seit seiner Wahl der Reichsregierung fortgesetzt die größten Schwierigkeiten bereitet, eine fruchtbare Verhandlung über die Steuerreform unmöglich gemacht hatte und sich alle Zugeständnisse nur hatte abringen lassen, beseitigt. Es kam nun darauf an, bei den Neuwahlen, welche auf 21. Febr. festgesetzt waren, eine regierungsfreundlich gesinnte Mehrheit zu erreichen. Die Deutschkonservativen, die Reichspartei und die Nationalliberalen schlossen zu diesem Zweck ein Wahlkartell, wonach in denjenigen Wahlkreisen, in welchen bisher ein Mitglied dieser drei Parteien im Besitz des Mandats gewesen war, dieses oder ein andres Parteimitglied gewählt werden und in den andern Wahlkreisen eine Einigung der Parteien über einen gemeinsamen Kandidaten erfolgen solle. Bennigsen und Miquel setzten sich wieder an die Spitze der nationalliberalen Partei und hielten auf den Parteitagen in Hannover und Neustadt a. d. Hardt echt patriotische, zündende Reden. Die Deutschfreisinnigen suchten die Aufmerksamkeit ihrer Wähler von der Ur- ^[folgende Seite]

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 237.