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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Frankreich (Geschichte 1887)
cine hohe Entschädigungssumme zahlte, beigelegt, obwohl das Versehen des Jägers leicht erklärlich war, da die französische Jagdgesellschaft die Grenze überschritten und a-uf Anruf nicht geantwortet hatte, also für französische Wilddiebe, wie sie zahlreich in deutschen Wäldern ihr Wesen trieben, gehalten werden konnte.
Dem Antrag Colfavrus, der den Sturz Freycinets verursacht hatte, suchte Goblet zu entsprechen, indem er zahlreiche Unterpräfekturen abzuschaffen vorschlug, was indes der Senat ablehnte. Boulanger legte ein neues Militärgesetz vor, welches die dreijährige Dienstzeit einführte und das Institut der Einjährig-Freiwilligen abschaffte. Der öffentlichen Meinung, die sich allmählich über die Finanzen beunruhigte, folgend, verlangte die Kammer von dem Ministerium vor allem Ersparnisse im Budget, ohne freilich anzugeben, welche Budgetposten zu streichen seien, und ohne den übermäßigen Forderungen des Kriegs- und des Marineministers sich zu widersetzen. Der Budgetausschuß erklärte einfach, die im Etat für 1888 von der Regie rung vorgeschlagenen Ersparnisse seien ungenügend, und das Ministerium sei verpflichtet, ein neues Budget vorzulegen. Die Regierung rechnete allerdings 77 Mill. Ersparnisse heraus, schlug aber gleichzeitig im Budget eine Erhöhung der Ausgaben um 58Mill., eine Anleihe von 400 Mill. und eine Steuervermehrung von 136Mill. vor. Goblet und Dauphin erklärten indes 17. Mai in der Kammer, wenn der Ausschuß Ersparnisse verlange, möge er die Möglichkeit derselben nachweisen, und als die Kammer dennoch den Antrag des Ausschusses, die Regierung solle mit ihm gemeinschaftlich das Budget ins Gleichgewicht bringen, init 275 gegen 257 Stimmen annahm, reichte das Ministerium Goblet seine Entlassung ein. Die Bildung eines neuen Kabinetts bot große Schwierigkeiten dar, da die Radikalen kein lebensfähiges Ministerium bilden konnten, die Opportunisten aber Boulanger nicht als Kriegsminister behalten wollten, weil derselbe, auf seine Beliebtheit bei der Menge pochend, eine unerträgliche Anmaßung und Eigenmächtigkeit gezeigt hatte. Endlich 29. Mai gelang es Rouvier, sin Kabinettzustandezubringen, das überwiegend aus gemäßigten Republikanern bestand; Flourens behielt das Auswärtige, Ferron trat an Stelle Boulangers, der als kommandierender General nach Clermont versetzt wurde. Das neue Ministerium versprach vor allen: ein System ernster Sparsamkeit durch Vereinfachung der Verwaltungsausgaben und Beseitigung der Unredlichkeiten bei der Erhebung der Steuern; wirklich erzielte es im Budget für 1888 (3124 Mill.) eine Ersparnis von 129 Mill. Es veran laßte den Beginn der Beratung des von Boulanger ausgearbeiteten Militärgesetzes, dessen Grundsätze von der Kammer gebilligt, dessen Annahme aber im Sonnner 1887 noch nicht beschlossen wurde. Auch bewilligten die Kannnern die Errichtung von4neuenKauallerie- u. 18Infanterieregimentern und später auch die Bildung von besondern Gebirgstruppen an der italienischen Grenze (12 Iägerbatcnllonen und 2 Artillerieregimentern). Die von der äußersten Linken und den Boulangisten gegen das Ministerium Rouvier gerichteten Anträge und Interpellationen wurden von der Mehrheit der Kammern zurückgewiesen, die letzte Interpellation Revillons 11. Juli sogar mit 357 gegen 111 Stimmen, worauf die Session der Kammern 22. Juli 1887 geschlossen wurde.
Gleichwohl schien die Republik durch die Uneinigkeit der republikanischen Parteien, die selbstsüchtigen Bestrebungen der Parlamentarier und die Umtriebe der
Intransigenten und Aoulangisten so unterwühlt, daß der Graf von Paris im Septembersich ermutigtfühlte, ein neues Manifest unter dem Titel: »Weisungen an die Vertreter der monarchischen Partei in F. zu erlassen, in welchem er die Überlegenheit des monarchischen Regiments über das republikanische, dessen Unbeständigkeit alle Anstrengungen, Ordnung in den Finanzen herzustellen, zu nichte mache und F. in Europa isoliere, hervorhob und die Einführung eines wahrhaft parlamentarischen Systems sowie Erleichterung der Militärlasten versprach. Dasselbe blieb nicht ohne Wirkung, zumal die Achtung vor den republikanischen Autoritäten, besonders vor Gre'vy, merklich gesunken war. Dazu kam im Oktober die Enthüllung eines großen Skandals. Der Generalstabschef im Kriegsministerium, General Eaffarel, wurde 7. Okt. unter der Anklage, mit dem Orden der Elnen^Hinn Handel getrieben und denselben unwürdigen Leuten gegen hohe Summen verschafft zu haben, verhaftet; der ebenfalls verdächtige General d'Andlau, ein durch seinen republikanischen Eifer bekannter Gegner Bazaines, entzog fich der Verhaftung durch die Flucht. Die Mittelsperson bei dem Ordensschacher hatte hauptsächlich Frau Limousin, eine berüchtigte Penon, gebildet, und es ergab sich, daß die Generale Thibaudin, Paul Grevy (Bruder des Präsidenten) und Boulanger mit ibr in Beziehungen gestanden hatten. Letzterer, der Eaffarel zu feinem hohen Posten berufen hatte, besaß die Dreistigkeit, den Kriegsminister Ferron wegen der Verhaftung Eaffarels zur Rede zu stellen und die gerichtliche Untersuchung für eine gegen ihn gerichtete Intrige zu erklären. Namentlich aber wurdo durch die Papiere der Limousin der Schwiegersohn des Präsidenten Grevy, der Deputierte Wilson, langjähriger Vorsitzender des Budgetausschusses, bloßgestellt, der nicht bloß die Verleihung von Orden, sondern auch von Amtern, Konzessionen und Lieferungen im größten Umfang vermittelt und bei seiner sehr ausgedehnten Korrespondenz sich durch Anwendung des Stempels der Präsidentschaft Portofreiheit verschafft hatte; er selbst schickte, als es bekannt wurde, nicht weniger als 40,()()()Fr. dem Finanzminister als Ersatz. Ein Bonapartist, Cuneo d'Ornano, stellte sofort'nach Zusammentritt der Kammern (25. Okt.) den Antrag auf Einsetzung eines Ausschusses zur Untersuchung der Verwaltu'ngsmißbräuche und des Ordenshandels, und die Kammer nahm ihn trotz des Widerspruchs der Minister nicht nur an. sondern bewilligte auch für die Beratung die Dringlichkeit, beauftragte aber den Ausschuß 8. Nov. mit der Untersuchung aller Unregelmäßigkeiten in der Verwaltung. Erschwert wurde der Wilsonsche Fall noch dadurch, daß sich ergab, das; besonders gravierende Briefe Wilsons an die Limousin aus den Akten verschwunden und durch neugeschnebene Briefe ersetzt waren, was nur durch Mitwirkung der Behörden möglich war. Die Kammer sprach ihre Entrüstung dadurch aus, daß sie 17. Nov. mit 527 gegen 3 Stimmen ihre Zustimmung zur gerichtlichen Verfolgung Wilsons gab. Der Präsident Grevy ließ sich aber dadurch in dem Glauben an die Unschuld seines Schwiegersohns nicht beirren und reichte seine Entlassung nicht ein, wie man erwartet hatte. Um ihn dazu zu zwingen, verabredeten das Ministerium und die Kammermehrheit die Herbeiführung einer Ministerkrisis; wenn dann niemand sich bereit zeigte, ein neues Kabinett zu bilden, mußte Grevy abdanken. Die Kammern hatten die Umwandlung der 4'/2proz. Rente in eine 3proz. beschlossen, und als die Linke 19. Nov. eine Interpellation alt die Regierung über die politische Lage richtete.