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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Französische Litteratur (seit 1884: Roman)

Bruder Ernest schon über dieses Thema geschrieben hatte, viel hinlänglich Bekanntes enthielt. "Sapho" und "L'Immortel", die letzten Romane Daudets, sind der eine die lebhaft entworfene Geschichte eines Unglücklichen, welcher unrettbar dem Zauber einer Sirene verfällt, der andre eine Satire auf die französische Akademie, über deren Berechtigung sich streiten läßt, deren Herbheit aber bei einer höchst pessimistisch gefärbten, wenn auch spannend vorgetragenen Fabel alle Billigdenkenden unangenehm berührte. Die Stellung Daudets ist heute eine unanfechtbare; was er auch schreiben mag, er wird immer Hunderttausende finden, die ihn lesen und auf ihn schwören, aber das hindert nicht, daß der künstlerische Gehalt seiner Werke immer mehr der Reklamensucht weicht. Victor Cherbuliez fährt in "La Bête" und im "Comte Ghislain" fort, wunderliche Käuze zu schildern, während Jules de Glouvet (Pseudonym des Generalstaatsanwalts Quesnay de Beaurepaire) gesellschaftlichen Studien vom Standpunkt eines Juristen erweitert, in "Le Père" die Lage eines Vaters ergründet, der keine gesetzlichen Ansprüche auf seine Tochter hat, und in "La fille adoptive" einen Erbschaftshandel mit mehr Fachkenntnis als schöpferischer Phantasie verarbeitet. Mit "Marie Fougère", die er zuerst unter dem neuen Pseudonym Lucie Herpin herausgab, griff er den Naturalismus scharf an und mußte sich dafür die Anfeindungen eines Teils der Presse in dem Augenblick gefallen lassen, da er zum öffentlichen Ankläger Boulangers ernannt wurde. Octave Feuillet, einst der Lieblingsschriftsteller des Tuilerienhofs, der den Gesellschaftsroman mit Vorliebe pflegte, hatte infolge eines traurigen Familienereignisses lange geschwiegen und überraschte, als er mit "La Morte" wieder vor die Öffentlichkeit trat, durch die Schärfe der Polemik, welche er darin gegen die freidenkerische Frauenerziehung führte. "La Morte" ist verwandt mit Henrik Ibsens "Nora,", nur daß der norwegische Dichter seiner Heldin mit liebevoller Teilnahme folgt, während Feuillet die seinige verabscheut und dies in ihrem ganzen Thun und Lassen zeigt, in ihrer gewaltsamen Durchführung des Satzes, daß der Schwächere in der Natur und Gesellschaft dem Stärkern weichen muß, wie in ihrem schmählichen Ende. Unter dem Kaiserreich hieß Feuillet mit einem Wortspiel, das Sainte-Beuve in einem seiner "Lundis" vor die Öffentlichkeit gebracht hatte, le Musset de familles; jetzt heißt Henri Rabusson, der Verfasser von "Le roman d'un fataliste", "Un homme d'aujourd'hui, "Le mari de Madame d'Orgevault" der "Sous-Feuillet", weil auch er, dem übrigens Phantasie und Darstellungskunst eignen, sich nur in der aristokratischen Gesellschaft bewegt und sich etwas darauf zu gute thut, ihre Gesetze wie ein Zeremonienmeister zu kennen, ihren Vorurteilen wie ein Priester seiner Religion zu dienen.

Gegen Hector Malots Roman "Conscience" wurde vielfach der Einwand erhoben, derselbe gleiche in den Hauptzügen Dostojewskijs "Verbrechen und Sühne", und der Verfasser selbst gab dies von dem Ausgangspunkt zu: ein Gebildeter, der das Recht des Stärkern geltend macht und sich durch die Ermordung eines Wucherers die Summe verschafft, deren er zur Vollendung seiner Studien bedarf. Während aber der Nihilist Rodion, ein kaum der Barbarei entwachsener Russe, von mystischem Schrecken gefoltert, einer Dirne sein Verbrechen beichtet und ihr gehorcht, als sie in ihn dringt, daß er sich den Gerichten stelle, wähnt der einer ältern Kultur entstammte Arzt Saniel, wie Malot in dem zweiten Teil seines Werkes, "Justice", zeigt, durch philanthropisches Wirken lasse sich das Geschehene tilgen. Er gibt den Armen und Unglücklichen tausendfach zurück, was er gestohlen hat; aber der Fluch der bösen That verfolgt ihn, und er verfällt dem Scharfrichter, nicht um seines Verbrechens willen, sondern weil das Bewußtsein desselben ihm nicht gestattet, eine andre Schuld, die ihm zur Last gelegt wird, von sich abzuwälzen. Anläßlich von "Verbrechen und Sühne" mag der Umstand Erwähnung finden, daß seit einigen Jahren in der gebildeten französischen Lesewelt, die sonst von ausländischer Litteratur nur wenig kennt, eine starke Neigung für den russischen Roman zu Tage tritt. Dieselbe wurde wachgerufen durch Iwan Turgenjew, der bekanntlich die letzten Jahre seines Lebens hier verbrachte und seine Romane teilweise in französischer Ausgabe zugleich mit der russischen erscheinen ließ. Die politischen Sympathien thaten dann das übrige, um den Aufsätzen des jetzigen Akademikers, Melchior de Vogüé, über russische Litteratur, den Übersetzungen von Tolstoi, Dostojewskij u. a. Eingang zu verschaffen, während neben diesen Frau Henry Gréville, welche ihren Landsleuten Rußland und die Russen in einer faßlichern Form erzählt, wie in "Cléopâtre", "Nikanor", "Louk Loukitch" stets ihr aufmerksames und dankbares Publikum hat. Gleich Albert Delpit gehört auch André Theuriet zu den beliebten Tagesschriftstellern, den Stützen der "Revue des Deux Mondes", die sich stets in denselben Kreisen bewegen, der erstere mit "Paule de Brussanges", "Catherine Levallier", "Disparu" wie der letztere mit "La vie rustique", "L'affaire Froideville", "L'amoureux de la préfète", "Amour d'automne", "Contes de la vie intime", wobei nur zu bemerken ist, daß Theuriet, der sich lange in der Vogesengegend gefiel, jetzt die Handlung seiner Romane nach Savoyen verlegt, wo er einen Teil des Jahrs zubringt und sein Talent aufgefrischt zu haben scheint.

Pierre Loti, unter den jüngern Schriftstellern einer von denen, welchen das Glück hold war, bevorzugt als Marineoffizier die Schilderung fremder Länder und Sitten, wenn er nicht, wie im "Pêcheur d'Islande", die heimische Bretagne und die Meere, welche die dortigen Schiffe besuchen, zum Schauplatz einer schlichten Herzensgeschichte macht, wohl das vollkommenste Werk, das man von ihm besitzt, maßvoll in den Beschreibungen und von tiefer Empfindung durchdrungen. Außerdem bot er noch "Madame Chrysanthème", gewissermaßen eine Fortsetzung der Liebesabenteuer des Seemanns, welcher an den verschiedensten Küsten, hier in Japan, nach Landesbrauch vorübergehend eine Lebensgefährtin nimmt, nach der braunen eine schwarze und dann eine gelbe, ein zierliches, sanftes Wesen, das zu einem Fetisch betet und dem Interimsgatten Zweifel einflößt, ob dem Weibchen auch ein Seelchen innewohne. Hier liegt das Interesse lediglich im Nebensächlichen, in der Darstellung einer Welt, wo alles klein und zart ist, wie die Menschen so die Tiere, Pflanzen, Geräte, Farben, eine Darstellung, die man noch weiter ausgeführt und feiner entwickelt findet in zwei Bänden von Stimmungsbildern: "Japoneries d'automne" und "Propos d'exil". Unter den heutigen Vielschreibern, die stets litterarisch bleiben im Gegensatz zu den Feuilletonlieferanten der Soublätter wie A. Bouvier, Richebourg, Jules Mary, René Maizeroy, Xavier de Montépin u. a. m., sind um der Vollständigkeit willen zu nennen Georges Ohnet, (Frau) Georges de Peyrebrune, Hugues Le Roux, Chroniqueur des "Temps" und Verfasser eines Cyklus von Romanen, in denen