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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Balneologische Gesellschaft (Versammlung Berlin 1891)

die bei oft schmaler Kost und unzureichendem Schlaf, jeder Witterung trotzend, die Arbeiter beaufsichtigen müssen, ohne selbst Hand anzulegen. Die früher verbreitete Meinung, es gebe eine durch die Höhenlage über dem Meeresspiegel bedingte schwindsuchtsfreie Zone, sei längst der bessern Anschauung gewichen, daß die schwindsuchtsfreie Zone überall für jeden einzelnen mit den Lebensverhältnissen beginne, welche ihm eine ausreichende Menge normalen Blutes und einen kräftigen Kreislauf desselben

sichern.

Weiter sprach Winternitz - Wien über die Bedeutung der Hydrotherapie für die Klinik. Vortragender beklagte lebhaft die Vernachlässigung, welche die Wasserkur in den Kliniken erfahre. Während jedes neu auftauchende Arzneimittel methodisch auf seine Wirksamkeit geprüft wird, werde die Wasserkur etwas von oben herab angesehen, während ihre geringe Wertschätzung nur darauf beruht, daß man sie nicht mit derselben Gewissenhaftigkeit methodisch ausbilde. Man könne mit Wasser die verschiedensten Effekte hervorrufen. So vermöge man z. B. auf den Blutkreislauf in nahezu beliebiger Weise einzuwirken (Gefäßerweiterung u. -Verengerung, Erhöhung und Herabsetzung des Gefäßtonus, Verlangsamung und Beschleunigung der Herzaktion), auf die Nerven anregend, reizend, beruhigend etc. Der junge Mediziner bekomme gar keinen Begriff davon, sowohl was die physiologische als auch was die praktisch therapeutische Seite betrifft, und er sehe meist mit Geringschätzung auf die ganze Sache herab. So komme es, daß die Kurpfuscher sich des Wasserheilverfahrens bemächtigen und damit oft wirklich gute Resultate erzielen, oft aber auch Schaden anrichten, der durch einen Arzt stets vermieden werden kann. Wie wenig die Hydrotherapie einer eigentlichen rationellen Behandlung gewürdigt werde, zeige die Antipyrese. Hier, bei der entzündungswidrigen Wirkung des Wassers, wo dessen Erfolge ganz unbestritten seien, wisse man ebensowenig von einer wahrhaft methodischen Verwertung der Wasserkur wie bei den sonstigen auf Steigerung oder Herabsetzung der Innervation, auf Belebung der Zirkulation, auf Hebung der Ernährungsstörungen gerichteten Wirkungen derselben. Vortragender hat sehr gute Resultate erzielt bei Neuralgien und Rheumatismen, weil durch den herbeigeführten stärkern Blutzufluß eine bessere Ernährung und Ausscheidung angehäufter Krankheitserreger und Krankheitsprodukte, welche die sensibeln Nerven reizen, erzielt wird. Er hat auch bei Lungenschwindsucht vortreffliche Erfolge erzielt. Die Hebung der Ernährung einerseits, die Minderung der Erkältungsgefahr anderseits sind hier entscheidend. Selbst in vorgeschrittenen Fällen wurden nicht nur Besserungen, sondern sogar Heilungen erreicht, und die Ungefährlichkeit der durch die hydriatische Methode hervorgerufenen Allgemeinreaktion macht die Anwendung dieser Methode hier noch besonders empfehlenswert. — Groedel-Nauheim beantragte, der Kongreß möge Schritte thun zur allgemeinen Einführung des hundertteiligen Thermometers bei Bezeichnung von Badetemperaturen sowohl in der Praxis als auch in wissenschaftlichen Arbeiten. Der Vorsitzende wies darauf hin, daß bereits von seiten andrer medizinischer Körperschaften Schritte in dieser Richtung vorbereitet seien, und die Versammlung beschloß, den Vorstand zu beauftragen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen. Bei der Diskussion empfahl man, für die Übergangszeit eine Doppelskala zu benutzen, wie sie bei den meisten Zimmerthermometern und auch in manchen Badeorten bereits üblich sei.

In der zweiten Sitzung besprach Schott - Nauheim einen Fall von angeborner Rechtslage des Herzens und beleuchtete einige für das Zustandekommen dieser Lageveränderung beachtenswerte Thatsachen. Er erläuterte seine Methode der Widerstandsgymnastik, welche zur Klärung der Diagnose wesentlich beigetragen habe. — Goldschmidt-Reichenhall sprach über die Notwendigkeit einer Gesetzgebung für Kurorte und Heilanstalten. Er zeigte, in wie verschiedener Beziehung die meisten Kurorte weit davon entfernt wären, den Anforderungen der Gegenwart in Bezug auf Hygiene zu entsprechen, und stellte eine Reihe von Punkten auf, welche zu erstreben seien. Namentlich zur Verhütung von Infektionskrankheiten sind scharfe Gesetze nötig, betreffend Anzeige und Desinfektionspflicht. Aber es sind auch für das ganze Reich Gesetze zu erlassen, um die Bezeichnung eines Ortes als Kurort von vornherein von ganz bestimmten Bedingungen abhängig zu machen. Auch für den Quellenschutz sind die bestehenden Gesetze unzureichend. Bei der Diskussion wird auf bereits bestehende gesetzliche Bestimmungen in andern Ländern hingewiesen und allseitig die Dringlichkeit der Sache anerkannt, mit deren weiterer Durcharbeitung die Hygienekommission beauftragt wird. — Putzar-Königsbrunn erörterte die Pathogenese und Therapie des petit mal. Er erklärte das Leiden für eine besondere Form der Epilepsie, für eine Neurose, die in verschiedener Weise auftritt, auch manchmal in Form von psychopathischen Zuständen (Dämmerzustand und halbbewußte Depression). Er erörterte dann die Ätiologie der Krankheit und führte unter anderm an, daß manchmal das Leiden durch lokale Hyperästhesie eines peripheren Nerven bedingt sei, wie in einem von ihm beobachteten Fall, der trotz jahrelangen Bestehens und vergeblicher medikamentöser Behandlung durch hydro- und elektrotherapeutische Maßnahmen, insbesondere Anwendung der Franklinisation und der Schwenkbäder, seiner endlichen Heilung entgegengeführt wurde.

In der dritten Sitzung berichtete Heymann - Berlin über die von ihm mit kantharidinsaurem Kali behandelten Fälle von Kehlkopfkrankheiten. Für ein Spezifikum hält er das Mittel nicht, da es sich auch bei Krankheiten nicht tuberkulöser Natur als wirksam erwiesen hat. Übelstände wurden nicht beobachtet. In einzelnen Fällen ist die Schmerzhaftigkeit an der Stichstelle ziemlich bedeutend. Besondere Aufmerksamkeit erfordert der Zustand der Niere, da zuweilen Beschwerden am Harnapparat beobachtet worden sind. — Groedel - Nauheim hielt einen Vortrag über Chorea (Veitstanz), ihr Verhältnis zu Herzkrankheiten und ihre Behandlung. Er hat bei der großen Mehrzahl seiner Fälle gleichzeitig Herzaffektionen beobachtet und konstatiert, daß der Krankheit mehr oder weniger lange Rheumatismus vorausgegangen war. Verhältnismäßig oft schloß sich die Chorea direkt an einen akuten Gelenkrheumatismus an. Rheumatismus und ebenso Herzaffektionen in ihrer Eigenschaft als rheumatische Erkrankungen können in gleicher Weise wie psychische Einwirkungen und Anämie die Veranlassung für das Zustandekommen der als eine Neurose aufzufassenden Chorea abgeben. Arsen, Antipyrin und Gymnastik, bei welcher aber jede Ermüdung sorgfältig zu vermeiden ist, haben sich am wirksamsten erwiesen. Erst wenn die Muskelunruhe