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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutsche Litteratur im Jahre 1891 (Roman und Novelle)

trotz der glänzendsten Hilfsmittel: ein schreckliches Stück, das die Einmauerung eines lebenden Weibes auf die Bühne bringt, und doch auch nicht ohne echt poetische Szenen. Von allen den vielen dichtenden Frauen, die leben, hat nur Marie Ebner-Eschenbach Talent zum Drama, was schon Otto Ludwig vor mehr als 30 Jahren (1860) bei Lektüre ihrer »Maria von Schottland« anerkannt hat; sie wurde aber schon vor vielen Jahren vom Theater abgeschreckt; jetzt schreibt sie zuweilen dialogisierte Novellen, die nach Darstellung durch feine Schauspieler Sehnsucht erwecken; eine davon: »Ohne Liebe«, ist denn auch mit Erfolg auf der Berliner »Freien Bühne« gegeben worden.

Epische Litteratur.

Hier ist die Produktion nun so gewaltig, daß es nicht in der Möglichkeit eines einzelnen liegt, sie zu übersehen und den Schein der Parteilichkeit zu vermeiden. Immerhin sei der Überblick dieser von den Leihbibliotheken und Zeitschriften um die Wette geförderten Thätigkeit weniger Berufenen und vieler Unberufenen gewagt. Soviel Neues auch jeder Tag bringen mag, der Erzähler und Romanschreiber aus allen Ecken und Enden des lieben Vaterlandes herbeischafft, so lebenskräftig und schreiblustig erweisen sich doch auch die nun einmal beglaubigten Schriftsteller, und diesen sei der Vortritt gewährt. Die Weihnachtsdichter haben die zäheste Arbeitskraft: Georg Ebers fehlt so wenig wie Felix Dahn, der uns »Odhins Rache« bescherte; in den vorjährigen »Batavern« hat Dahn gezeigt, daß sich naturalistische Elemente auch im historischen Roman gut verwenden lassen; wunderlich genug haben seine Freunde die »Bataver« eines Bismarck würdig gefunden. Erfreulicher ist die echte Dichtergestalt Wilhelm Raubes, sein »Stopfkuchen« ist eine wunderliche, aber gehaltvolle Erzählung. Theodor Fontanes Roman »Quitt« ist halb modern, halb romantisch, halb Dostojewskische Verbrecherseelenanalyse, halb märchenhafter Idealismus. Sein Roman »Unwiederbringliche ist weitaus weniger spannend, von gänzlich verschiedenem Charakter, ebenso ruhig, als »Quitt« aufregend, mit vielen schönen Stimmungsbildern aus Kopenhagen und seinem Hofleben im J. 1864. Eins der allerschönsten Bücher Fontanes: »Kriegsgefangen. Erlebtes 1870«, ist endlich nach 20 Jahren in zweiter Auflage erschienen und wird sich wohl seine Anerkennung sichern. Roseggers neue Bücher: »Der Schelm aus den Alpen« und »Hoch vom Dachstein«, sind Sammlungen nicht immer vollwertiger, im ganzen aber frisch, ernst oder humorvoll empfundener kleiner Geschichten, deren einzelne Perlen in ihrer Art sind. Die »Judith Trachtenberg von K. E. Franzos gestaltet sich zu einer Apologie der Juden gegen den polnischen Adel, wirkt mit starken Mitteln und unwahrer Sentimentalität. Auch die neue Erzählung Hans Hopfens: Der Stellvertreter«, bedeutet keinen Fortschritt des Dichters des »Alten Praktikanten«. Heinrich Seidels »Sonderbare Geschichten« bezeugen wieder seine Meisterschaft in der stimmungsvollen Naturschilderung, aber keinen Fortschritt über seinen »Leberecht Hühnchen«. In Alfred Biese (»Deutsche Schriften f. Litt. u Kunst«, hrsg. von Eugen Wolff, 1. Reihe, 5. Heft, Kiel 1891) hat Seidel einen Ritter gefunden, der ihn an den Gipfel des deutschen Humors u. zunächst an Jean Paul und Reuter rückt. Das wird wohl kein andrer unterschreiben. Julius Rodenberg hat seinen gemütvollen Humoresken: »Des Herren Schellenbogens Abenteuer«, eine neue Sammlung kleinerer Stücke folgen lassen: »Klostermanns Grundstück«. Hans Blum hat in seiner Renaissancegeschichte »Der Kanzler von Florenz« das tragische Schicksal Nicolo Macchiavellis behandelt: reicher an historisch-politischem Geist als an Poesie. Hermann Heiberg hat seinen zahlreichen Romanen auch diesmal einen Band Berliner Sittenmalerei zugesellt: »Todsünden«. Theophil Zollings »Kulissengeister«, Ossip Schubins »Thorschlußpanik«, Ernst Ecksteins »Dombrowsky« befriedigen die Bedürfnisse des großen Lesepublikums in ihrer Weise. Und ebenso haben die zahlreichen Romandichter und Novellisten, denen wir jahraus jahrein in unsern Zeitschriften und Familienblättern begegnen, redlich geschaffen, ohne der Litteratur des Jahres ein besonderes Gepräge zu verleihen. Dennoch sind einige besonders denkwürdige Erscheinungen auf diesem Gebiete zu verzeichnen, die mehr als bloß das Tagesbedürfnis befriedigen, und diesen wollen wir uns nun zuwenden. Da sei zuerst der neuen Dichtung des Züricher Meisters Konrad Ferdinand Meyer: »Angela Borgia«, gedacht. Sie war die bedeutendste Erscheinung der Erzählungslitteratur des letzten Weihnachtsmarktes, aber im Vergleich mit seinen eignen Meisterwerken eine schwächere Arbeit; doch prägen sich auch die Hauptszenen und Charaktere dieser Novelle dem Leser unvergeßlich ein. Die Erzählung: Margarete« von Marie v. Ebner-Eschenbach ist eins ihrer aus früherer Zeit stammenden Werke, das nur erst jetzt in die Öffentlichkeit kam; doch ist der Geist der berühmten Aphorismen-Schreiberin nicht zu verkennen.

Ihr sehr spärlich produzierender Landsmann Ferd. v. Saar hat wieder ein schmächtiges Bändchen Novellen: »Frauenbilder«, mit feiner Kunst der Charakteristik veröffentlicht. Hans Hoffmann hat sich mit seinem deutschen Don Quichotte: »Der eiserne Rittmeister«, in die vorderste Reihe der Erzähler gestellt. Diesem humoristischen Werk mit geschichtlichem Hintergrund ließ er nun zwei Bände Novellen folgen, die in der Gegenwart spielen und ein beliebtes Motiv der Humoristen (das Schulmeisterleben) in geistreichster Art, ganz originell behandeln: »Das Gymnasium zu Stolpenburg« und »Ruhm«. Seit Jean Paul ist der lebensunkundige, mit der Jugend jung gebliebene Schullehrer Gegenstand mehr oder minder würdigen Humors. Hoffmann hat den Kern des Motivs in dem allgemeinen Verhältnis des Menschen zum Nebenmenschen, in der Fähigkeit des einzelnen, auf den Willen des andern zu wirken, erfaßt und die schwere Kunst des Disziplinhaltens zum Ausgang seiner psychologischen Betrachtung genommen. Wie geistvoll er nun dieses Verhältnis variiert, wie lebenswahre und fesselnde Gestalten rührender und heiterer Art er in seiner Lehrergesellschaft zeichnet, mit welch vornehmer Bildung er die menschlichen Schwächen und gelehrten Übel des Standes beleuchtet, die Satire zum Humor verklärend: das ist von unvergänglicher Schönheit. Keine geringere Anerkennung verdienen Hoffmanns »Geschichten aus Hinterpommern«, die sich zu einer Apologie der Heimat des Dichters zuspitzen. Auch Paul Heyses »Weihnachtsgeschichten muß man als eine Bereicherung unsrer Novellenpoesie bezeichnen, so wenig Lärm sie auch in der partejjschei: Tageskritik gemacht haben. Mit wie reinen Händen weiß Heyse seinem Schönheitsideal zu opfern! Wie fern steht seiner Sinnlichkeit alle Frivolität der Nachahmer der Franzosen! Wie wohlthuend ist es, das Ohr im Wortklang seiner geklärten Prosa zu baden! Eine ganz originelle Schöpfung ist Karl du Prels hypnotisch-spiritistischer Roman: »Das Kreuz am