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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Dreisinnige (Erziehung der Taubstummblinden)

Bildung, als gesundes Kind 1829 geboren. Mit zwei Jahren hatte sie bereits einige Worte plappern und einzelne Buchstaben des Alphabets kennen gelernt, als sie durch ein Scharlachfieber Gehör und Gesicht verlor. Das Gehör war sofort gänzlich geschwunden; das rechte Auge blieb noch einige Jahre so weit empfänglich für Lichteindrücke, daß eine im Dunkel brennende Kerze, das von der Sonne erhellte Fenster oder ein nahe gebrachter weißer, vielleicht auch scharlachroter Gegenstand ihre Aufmerksamkeit erweckte, ohne jedoch ihr Eindrücke zu geben, die irgend geistbildend hätten wirken können. Da auch Geruch und Geschmack des Kindes nicht besonders scharf waren, blieb sie für den Verkehr mit ihrer Umgebung fast ausschließlich auf den Tast- und Gefühlssinn angewiesen. Dennoch lernte sie im wesentlichen sich sicher durch das elterliche Haus zu tasten und hatte, wie spätere schriftliche Aufzeichnungen beweisen, ein gewisses Verständnis für das wirtschaftliche Thun der Mutter, die begreiflicherweise das hilflose Kind selten von der Seite ließ. Auch eine begrenzte Anzahl natürlicher Gebärden, die sich allmählich zur anerkannten Zeichensprache über die unentbehrlichsten Bedürfnisse des Verkehrs befestigten, war in Übung. So bedeutete Streicheln des Gesichts Zufriedenheit, Schlagen des Rückens Unzufriedenheit der Eltern, Ausstrecken der Hand Hunger des Kindes, Streichen einer Hand über die andre den Wunsch, Butter zum Brote zu erhalten etc. Oft genug jedoch ward Laura nicht verstanden und geriet dann in Wut, die nur durch väterliche Züchtigung eingedämmt werden konnte. Mütterliche Geduld brachte dem unglücklichen Mädchen, das die Thätigkeit der Mutter mit tastenden Händen zu verfolgen liebte, auch die Anfangsgründe des Strickens, Flechtens, Nähens bei. Howe, der in jungen Jahren den griechischen Freiheitskrieg mitgemacht und beschrieben, hatte inzwischen die Blindenanstalt in seiner Vaterstadt begründet und zu Blüte gebracht. Er hörte von der kleinen Blindtaubstummen und erreichte von den Eltern, daß sie ihm zur Ausbildung anvertraut ward. Im 8. Lebensjahr (4. Okt. 1837) trat Laura in die Anstalt ein. Die Geschichte ihrer Erziehung und ihres Unterrichts kann hier in ihren einzelnen Stufen nicht verfolgt werden. Durch ein sinnig erdachtes Verfahren brachte man der Kleinen zunächst bei, daß Gegenstände, später auch Eigenschaften, Thätigkeiten etc., durch momentan dargestellte Zeichen, Typen in Blindenschrift, dargestellt werden könnten. Leichter ging es dann von der Zusammensetzung der Worte aus Metalllettern zur Fingersprache der Taubstummen und endlich zur Blindenschrift fort, da mit der Übung die Findigkeit zunahm und jeder Fortschritt in Können und Verstehen der Schülerin selbst die innigste Freude bereitete. »Im Laufe von 2 Jahren hatte Laura die Sprache sich so weit angeeignet, daß sie sich mit denjenigen Personen, welche die Fingersprache der Taubstummen kannten, direkt verständigen und auch schriftlich mit ihren Lieben verkehren konnte«; dies selbstredend damals erst im bescheidensten kindlichen Sinne. Auch in die ideale Welt erhob sich ihr Geist immer sicherer, so daß sie über Gott, Schöpfung, Vorsehung, selbst über die geschichtlichen Grundlagen und die Hauptlehren des Christentums in der Art schlichter Leute, deren Gefühl lebendiger wirkt als ihr kritischer Verstand, mit gutem Urteil zu reden vermochte. Selbst einige Gedichte von ihr gibt es, die eigenartige, wenngleich nicht gerade ausgezeichnete Vorstellungen zum Ausdruck bringen. 50 Jahre nach ihrem Eintritt in die Bostoner Anstalt (1887)

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bereitete diese ihrer berühmtesten Schülerin eine Jubelfeier, wozu die Gefeierte eine erbauliche Ansprache verfaßte, die den Festgästen vorgelesen ward. Ihre Grundstimmung in Hinsicht des eignen Daseins drückt, obzwar sie die Mängel ihrer körperlichen Ausrüstung wohl erkannte und empfand, ein Wort aus, das als ein Zeugnis von ihr, der fast grausam von der Natur Geprüften, Howe und seine Mitarbeiterinnen mit gerechtem Stolz erfüllte: »Wie froh bin ich, daß ich geschaffen bin!« Unter voller Würdigung der humanitären und philanthropischen Seite des Falles unterzieht Jerusalem ihn nach allen in Betracht kommenden Seiten eingehender wissenschaftlicher Analyse, worin ihm der amerikanische Gelehrte Stanley-Hall, Präsident der Clark University zu Worcester (Massachusetts), bereits durch Versuche und Beobachtungen physiologischer Art an der noch lebenden Laura Bridgman (1879) vorangegangen ist. Nur einzelnes kann hier daraus hervorgehoben werden. Wichtig erscheint der Anteil, den die Erlernung der Sprache auch ohne Laut bei der kleinen Dreisinnigen für die Entwickelung eines höhern Geisteslebens überhaupt, namentlich für die Verwandlung der einzelnen Vorstellungen in feste, allgemeine Begriffe ausgeübt hat; nicht minder für den stufenweisen Fortschritt der begrifflichen Abstraktion und die dadurch bedingte Denkfähigkeit des Kindes, das übrigens auch wie andre Blinde es zu einem verhältnismäßig hohen Grade der Einbildungskraft brachte, welche ihm z. B. ermöglichte, genaue geographische und topographische Kenntnisse über ein nicht allzu enges Gebiet sich anzueignen. Lebhaft entwickelt war Lauras Empfänglichkeit im Aufnehmen wie Sicherheit im vergleichenden Abschätzen und treuen Bewahren von Zeitvorstellungen. Jerusalem widmet dieser Erscheinung besondere Aufmerksamkeit und erblickt darin eine Stütze für seine schon anderweit vorgetragene geistreiche Hypothese, wonach die Zeitvorstellungen überhaupt aus dem Bewußtwerden der innern Spannung bei geistiger Arbeit erwachsen. Sehr erklärlich, daß das Bewußtsein der innern Arbeit bei der Einschränkung auf den einen Kanal zur Aufnahme äußerer Eindrücke ein besonders lebhaftes und unzerstreutes war. Endlich wird besonderes Gewicht darauf gelegt, daß Laura Bridgman eine Anzahl zunächst unwillkürlicher Töne (ihr selbstverständlich nur durch Tastsinn und Muskelgefühl als Bewegungen bewußt), die sie bei Berührung mit den Personen ihrer nächsten Umgebung ausstieß, allmählich zu bewußt festgehaltenen Quasinamen für die einzelnen erhob; allerdings eine sehr merkwürdige Thatsache, welche die Ansicht zu bestätigen scheint, daß menschliche Sprache überhaupt aus den vom Momente des Ursprunges allmählich gelösten und selbständig ausgebildeten Gefühlslauten entstanden ist. Noch nicht benutzen konnte Jerusalem den Befund der Sektion des Gehirns der Laura Bridgman, der nach der Angabe seines Rezensenten im »Litterarischen Zentralblatt« (Nr. 45 des Jahrganges 1891) inzwischen von Donaldson im »American Journal of Psychology« veröffentlicht worden ist.

Wie bereits angedeutet, steht der im vorigen etwas ausführlicher besprochene Erfolg der Taubstummblinden-Bildung nicht ganz einzeln da. Jerusalem führt am Schlusse seines Berichtes drei D. auf, deren kürzere oder längere Behandlung im Bostoner Institut die Bildungsfähigkeit solcher Unglücklichen ebenfalls bestätigt. Genauer geht er dann auf ein noch in der Erziehung begriffenes Mädchen, Helene Keller aus Tuseumbia (Alabama), ein, das