Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

362

Geldmarkt und Börse 1890/91

Die ganze Goldbewegung hat sich in Abhängigkeit von Rußland entwickelt. Rußland hatte an den europäischen Börsenplätzen bedeutende Guthaben, welche in Gold gedeckt werden müssen. Solche Guthaben liegen auch in England. Die englische Bank muß jeden Augenblick auf Entziehung derselben vorbereitet sein. Im Juli 1891 wurden von Rußland 1 1/2 Mill. Pfd. Sterl. durch das Haus Rothschild in Anspruch genommen, sie sind aber sofort wieder in die Bank zurückgekehrt, weil Rußland seinen Goldbedarf bereits anderweit gedeckt hatte.

Der Zweck der Ansammlung großer Posten Gold in den Händen Rußlands ist bis jetzt nicht bekannt. Die Absicht, die Goldwährung herzustellen, von welcher viel gesprochen wurde, wird durch die Thatsachen nicht bestätigt. Auch würden die augenblicklichen wirtschaftlichen Zustände für die Durchführung der Goldwährung nicht günstige sein. Denn der Kurs der russischen Valuta ist von dem Ertrag der Ernte, bez. der Ausfuhrfähigkeit abhängig; diese wechselt aber so bedeutend, daß für 1891 sogar eine Mißernte vorausgesetzt werden muß. Die Goldparität berechnet sich auf 324,98 Mk. = 100 Rubel, und von dieser ist der Kurs sehr weit entfernt. Wahrscheinlich soll die Anhäufung großer Goldmassen dazu dienen, die Konvertierungs-Operationen im großen Umfang durchzuführen, um die in Betracht kömmenden Anleihen event. zurückzahlen zu können.

Diese Operationen haben jedoch eine Unterbrechung erfahren, weil eine zu diesen Zwecken aufzunehmende russische Anleihe von 500 Mill. Frank im letzten Augenblick aufgegeben werden mußte. Der Hauptunternehmer für die Anleihe war Rothschild, welcher fand, daß der Geldmarkt und die wirtschaftliche Lage des Landes ein Gelingen der Anleihe nicht erwarten ließen.

Die in Rußland ergangenen Ausfuhrverbote veranlaßten eine Steigerung der Preise für Roggen, Weizen etc. und beeinflußten auch den Berliner Börsenverkehr in hohem Grade. Hierdurch hat eine bedeutende Kursbewegung der russischen Valuta abwärts stattgefunden. Doch haben hierbei noch ganz besonders Leerverkäufe mitgewirkt.

Der Notstand in Rußland hat eine sehr bedeutende Ausdehnung erreicht. Rußland war genötigt, einen Teil seiner Guthaben aus dem Auslande zurückzuziehen und zu Unterstützungen zu verwenden. Anderseits hat diese Verwendung und die Wirkung derselben auf alle wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands dessen Kredit im Auslande so bedeutend geschwächt, daß die geplanten neuen Anleihen im Auslande nicht realisiert werden konnten. Vgl. den besondern Art. »Russisches Reich« (Finanzen).

Einem stärkern Kursdruck unterlagen die inländischen Fonds, besonders 3proz. Anleihen. Am 20. Febr. wurden 200 Mill. 3proz. deutsche Reichs-Anleihe und 250 Mill. Mk. 3proz. konsolidierte preußische Staatsanleihe zum Kurse von 84,40 Proz. zur Zeichnung aufgelegt. Der Kurs der Scrips (nicht vollgezahlte Stücke) ging bis auf 82,60 und der 3 1/2proz. Anleihe bis auf 96,60 Proz. Diese Kurse bestanden zwar nur vorübergehend, haben aber den Beweis geliefert, daß die Ausgabe von 450 Mill. Mk. 3proz. Anleihen ein Fehler war. Die leitenden Minister glaubten, die Spekulation für diese zum erstenmal mit 3 Proz. verzinslich ausgegebenen Anleihen dauernd zu interessieren. Die starke Zeichnung und die steigende Kursrichtung unmittelbar nach der Zeichnung bestätigte die Teilnahme der Spekulation, aber es fehlte derselben die Dauer, weil sich im August starke Verkäufe entwickelten und einen Kursdruck veranlaßten. Hätten die leitenden Kreise auf eine möglichst beschleunigte Teilnahme des Kapitals hingestrebt, dann mußte diese durch die Ausgabe einer 4proz. Anleihe veranlaßt werden. Der Kapitalzins war schon im Februar zur Zeit der Emission im Steigen begriffen. Deutsche Staatspapiere sind keine geeigneten Spekulationsobjekte, während auf eine Beteiligung der Spekulation an 3proz. Papieren für eine längere Dauer nicht zu rechnen war. Die neue 3proz. Anleihe trug zum Emissionskurs 3,56 Proz. Der Unterschied dieses Prozentsatzes gegen 4 Proz. macht allerdings bei 450 Mill. einen erheblichen Gewinn aus. Ob derselbe aber die ungünstige Wirkung des Kursdruckes bis auf 82,60 Proz., also um 1,80 Proz. unter dem Emissionskurs deckt, bleibt zu bezweifeln. Bedeutende Verkäufe wurden auch infolge der Gestaltung der Verhältnisse am Geldmarkt vollzogen. Die Einzahlung auf die neue 3proz. Anleihe hatte am 5. März begonnen und dauerte in weitern fünf Raten bis 1.-6. Nov. Es haben zwar bedeutende Vollzahlungen stattgefunden, aber das hinderte nicht, daß jede Einzahlung einen neuen Druck veranlaßte, weil wegen der Teilnahmlosigkeit der Spekulation noch viel Material flottant war.

Andre zinstragende Papiere folgten der Bewegung, aber der Kursdruck derselben war weniger stark als derjenige der Scrips. Es wurden notiert (in Millionen Mark):

Nominal-Kapital Wert Ende 1889 Wert Ende 1890 Unterschied

Montanaktien 625,0 1062,0 836,0 226,0

Bankaktien 1361,4 2049,7 1891,5 158,2

Baugesellschaften 98,7 119,6 103,3 16,3

Brauereigesellschaften 82,0 128,2 111,3 16,9

Chemische Gesellschaften 20,4 30,4 259,1 4,5

Gas- und Wasser-Gesellschaften 30,4 47,0 454,5 1,5

Maschinen- und Eisenbahnmaterial-Gesellschaften 110,2 175,5 155,2 20,2

Transportwerte 146,3 241,8 220,5 21,3

Zuckerfabriken 18,0 22,9 18,7 4,2

Papierfabriken 12,7 13,2 11,8 1,4

Gummifabriken 10,1 19,6 19,2 0,4

Verschiedene industrielle Gesellschaften 355,8 569,5 489,3 80,2

Zusammen: 2870,9 4479,1 3928,0 551,1

Aus vorstehender Aufstellung ist ersichtlich, in wie hohem Maße sich die Kurse vom Schluß des Jahres 1889 bis Ende 1890 verändert haben, und welche großen Verluste allein auf dem Bank-, Industrie und Bergwerksaktienmarkt erlitten worden sind. Es muß berücksichtigt werden, daß dies keineswegs effektive Verluste sind, denn es wurde nur ein Teil der Aktien zu den angegebenen Kursen gekauft, bez. verkauft.

Auf dem Geldmarkt spielten deutsche, resp. preußische Anleihen eine hervorragende Rolle. Die Einzahlungen auf die neuen 3 proz. Anleihen waren der deutschen Reichsbank zugeflossen. Letztere hat aber der durch Anschwellung der Staatsguthaben entstandenen Unsicherheit dadurch ein Gegengewicht geboten, daß sie starke Goldankäufe im Ausland vollzog und ihren Metallvorrat bis auf 948,97 Mill. Mk. 22. Aug. vermehren konnte. Derselbe überschritt den Notenumlauf um 34,05 Mill. Mk. und begründete eine steuerfreie Notenreserve von 359,15 Mill. Mk., welche den Septemberbedarf sehr reichlich deckte. Am 30. Sept. betrug die steuerfreie Notenreserve 123,70