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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Ornament (gotisch)
der Natur nicht dic Rede. (5s ist nur freie Wiedergabe des Natürlichen und diese oft melir vorwiegende Thätigkeit des Verstandes als der Phantasie. Mit scharfem, berechnendem Blick sucht das Auge des Künstlers aus der Mannigfaltigkeit die Einheit Zu finden, gleichsam das dem Gebilde zu Grunde liegende Gesetz zu erforschen, um dann das Motiv nach seiner Schönheit ästhetisch und nach seiner Form geometrisch-praktisch zu verwenden. Doch greift der'Künstler nicht willkürlich in die ihn umgebende Pflanzenwelt hinein. Es leiten ihn bei der Äuswabl der Motive nicht nur ästhetisch-praktische Grundsätze, sondern auch religiös-ideale, welche die symbolische Bedeutung dieser oder jener Pflanzenart durch den Volksmund diktieren. Daher finden wir an den drei Schenkelenden des an den Giebeln der Dome und Kirchen stehenden Kreuzes Kleeblätter (Zeichen der heiligen Dreieinigkeit), Äpfel (Bild der Vollkommenheit, Herrschaft Christi), Lilienblüten (Bild der Reinheit) und Haselnüsse (Bild der Unsterblichkeit) als Ornamentzierden. Die stilisierte Lilie des gotischen Ornaments bewahrt während der ganzen Stilperiode ihre typische Form. Sie setzt fich aus drei Blättern zusammen, von denen die beiden äußern sich schwungvoll zur Seite neigen und das mittlere größere oben und unten pfeilförmig zugespitzt ist. Das ornamentale Gebilde (in seinem untern Teil eine Wiederholung des obern) wird in der Mitte durch ein Band zusammengehalten. Der Lilienornamentenstab tritt schon im 1(). Jahrh, durch Ludwig den .veiligen in Siegel und Wappen der französischen Könige über.
Die auf den Kanten der freistehenden Giebel, den Kanten der pyramidalen Fialen und .velme auftretenden Vossen oder Krabben zeigen sich in Form hängender Blattknospen oder Zusammengerollter Wein- (Fig. 6 der beifolgenden Tafel), Eichen-, Ahorn- oder Distelblätter (Fig. 7 der beifolgenden Tafel); oft erscheinen dieselben blasig aufgetrieben und führen alsdann den Namen Knollenblätter.
Hauptsächlich aber sind die Krabben und auch die kreuzförmigen Zierblumen auf den Spitzen der Fialen und der Helme der Blüte des Frauenschuhes (^-I'ripecliuiu (^Iceolus), einer Orchidee, entlehnt. Die Kreuzblume erscheint schon in den romanischen Bauten. In der Frühgotik Zeigt sie sich als halbaufgeblühte Knospe auf Giebelspitzen und Wimpergen.
In der deutschen Gotik tritt sie bald als Helmkreuzblume auf und bleibt es während der ganzen Blütezeit der gotischen Kunst. Anfangs erscheint sie als achtseitiger Stengel, der sich an der Spitze zu einem Kranze nach außen gebogener Blätter entfaltet. Diese umschließen ein knosven'förmiges Gebilde. Bald aber findet fich über dem ersten noch ein zweiter, ja ein dritter Kranz von Blüten des Frauenschuhes oder von kunstvoll zusammengelegten, geschmackvoll gruppierten Blattgebilden und Knollenblättern, zu denen vorzugsweise Sphen, Osterluzei, Eiche, Distel, Klee (Fig.6,8 und 9 der beifolgenden Tafel), Winter- und Brünnenkresse, Weinrebe (Fig. 6 der beifolgenden Tafel) und Feige die Muster geliefert haben, und die ursprünglich an der Spitze vorhandene Knospe endet mit einem oft zapfenähnlichen, knopfförmigen Gebilde (Fig. 6 und 8 der beifolgenden Tafel). Das füllende Maßwerk der Giebel, Fenster und Galerien Zeigt neben lilienförmigen Durchbrechungen, Vier- und Fünfblatt und sogen. Fischblasen Motive vom Kleeblatt (Fig. 9 der beifolgenden Tafel) und von der gestrahlten Blüte der Sternblume. Die Tudorrose im englisch-gotischen Stil ist der aufgeblühten Rofe nachgebildet, und die Tudorblume der Tachkämme
Meyers Kalw.» Lexikon. 4. Aufl.. XIX. Vd.
und Firsten zeigt vier in Kreisform zusammengelegte Epheu-, Eichen- oder Akanthusblätter mit blasigen Ausbauchungen. Der graziösen Palmette im englischen Elisabethstil ist die Blüte des Geißblattes (I^onicei'td (^pt'ifolium) zu Grunde gelegt. An dem Eingang der gotischen Dome findet man nicht selten ein ornamentales Palmenkreuz, und das Portal ist häufig mit einem in Stein gehauenen Astwerk umrahmt, dem einigedürftige Vlättchen entsprießen. Das sogen. Tympanön (schließende Steinplatte der offenen Bogeneingänge) ist besonders in schönster und reichster Weise durch Blatt- und Blütenornamente geziert.
Nie im Äußern, so entfaltet auch der gotische Bau im Innern seine hohe ornamentale Pracht, besonders an den Kapitalen der Dienste und Pfeiler. In der frühgotischen Periode wählte man hauptsächlich Blätter, Knospen, Blüten und Früchte von kleinern Pflanzen, wie Epheu (Fig. 10 der beifolgenden Tafel), Wegerich, Johannisbeere, Stachelbeere, Petersilie, Schöllkraut ((^isliäoniuin lua^'us, Fig. 11 der beifolgenden Tafel), hin und wieder auch Schilfblätter; gegen Ende des 13. Jahrh, aber, wo der Ornamentenschmuck namentlich an den Kapitalen vorzuherrschen beginnt, wählt man auch die Vorbilder aus den Blattformen der heimischen Sträucher und Bäume, und die Nachahmung nähert sich mehr und mehr der Wirklichkeit. Von den hauptsächlichsten Vlattmotiven sind zu nennen: das Weinblatt (Fig. 12 der beifolgenden Tafel), dem sich auch in den Rankenzügen Nanke und Traube zugesellt. Die Blätter, anfangs flach gebildet, erhalten später buckel- und knollenförmige Erhöhungen und wirken durch den dadurch erzeugten Wechsel von Licht und Schatten ungemein plastisch.
Das Blatt der Feige ward gewöhnlich nur in seinen Umrissen dargestellt und hat eine weniger reiche Modellierung aufzuweisen als das Ahornblatt (Fig. 13 der beifolgenden Tafel und Taf. II, Fig. 32). Das Blatt der Zaunrübe (Li^onig, äioicn) und das des St. Barbarakrautes (V^idai-^ea. vu IZari^) findet fich häufig als Ornamentenmotiv an den Säulenkapitalen aus der Spätgotik. In der Frühgotik begegnen uns ferner recht häufig die Blätter der Akeley (^(Ml6g'i<T vui2iiii8), die des Goldmilzkrautes ((Hi'V8o8i)i6uwm alt Li'intdlium), des Sauerklees (Oxüii^ ac6t086ljli), die der Roßkastanie, des Hopfens, die zu Blattkränzen vereinigten Spitzblätterdes Wegerich, die streng stilisierten Blätter des Sauerampfers (kumex in'Ät LUßis), die der Braunwurz (8ci'0plnil^i'i^ iioäc>8^). Von den Pflanzen, welche während dieser ganzen Kunstperiode teils mit Blatt und Blüte, teils mit Blatt und Frucht das O. beherrschen, verdienen genannt zu werden: die Osterluzei
tern und Blüten, die Linde (Blatt), die Stechpalme (Hex n^nifolinm) mit Blatt und Frucht, die gemeine Malve (Allilva vul^n'ß), das Pfeilkraut (8^^itwi'ig, ^tz'ittitdlik) mit seinen Blättern von sprechender Naturtreue, der Lauch (^.Iiinin ni^inum) mit Blatt und Blüte, die Winde, in Rankenzügen, die Wedel vom Engelsüß (^oi^poäium vui^Ni'6), von der Mondraute (Zoti'^eliium I^uaria), der Mauerraute (^(liantum aiduin), des Frauenmantels (^1ckeiuili^ vu1^liN8) mit sehr gering stilisierten Blättern, die Blätter und Blüten der Erdbeere, die Blätter der Distel ((^Ti'äuu8 nc^i Moides), Blüten und Früchte des Mohns, die Blüten des Löwenmauls (^.ntii'i'liimnu iua.ju8, Fig. 14 der beifolgenden Tafel), Blätter der Ha'selstaude, die Zapfen der Fichte als Abhänglinge an den Schlußsteinen der sich kreu Zendcn Vogeiw.urtc; vom Aronsstab (^rnm maoulatnm)
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