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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Staatsromane (politische)

selben, West, verfällt 1887 in Boston in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst im J. 2000 erwacht und den neuen Sozialstaat kennen lernt. Der Staat ist im Besitz aller Produktionsmittel und alleiniger Arbeitgeber. Die reichlich und gleich bemessene Entlohnung für die von allen zu leistende Arbeit erfolgt durch im allgemeinen unübertragbare Kreditkarten, mittels welcher man die Vorräte der öffentlichen Magazine etc. benutzt; Geld kennt man nicht, und der Name Dollar dient nur als Wertmaßstab. Die Güterproduktion erfolgt mittels der ausgebildetsten Technik und Konzentrierung. Die Arbeit beginnt mit dem 21. Lebensjahr, bis zu welchem der Unterricht dauert, und endet mit dem 45. Die ersten 3 Arbeitsjahre sind den gewöhnlichen Arbeiten gewidmet, worauf dann die Berufswahl erfolgt. In den leichten und angenehmen Berufen ist die Arbeitszeit länger als in den schweren. Die Regelung der Produktion erfolgt im obrigkeitlichen Wege; das Eigentum an Genußmitteln steht frei. Bezüglich des Ehelebens gelten die heutigen Vorschriften. Gegen diese sehr leicht und anziehend geschriebene Schilderung Bellamys sind eine Reihe von Schriften entstanden, welche aus den in derselben angenommenen Verhältnissen die weitern Konsequenzen ziehen, um deren Utopismus klarzulegen. So R. Michaelis (Chicago), »Ein Blick in die Zukunft« (1890, in Reclams Universal-Bibliothek); Fränkel, »Gegen Bellamy« (Würzb. 1891); Wilbrand, »Erlebnisse des Herrn Friedrich Ost in der Welt Bellamys« (das. 1891), und Müller, »Ein Rückblick aus dem Jahre 2037 auf das Jahr 2000. Aus den Erinnerungen des Herrn Julian West« (3. Aufl., Berl. 1891). Ein zweiter sozialistischer Staatsroman ist Th. Hertzkas »Freiland, ein soziales Zukunfsbild^[korrekt: Zukunftsbild]« (Leipz. 1890). Dieser schildert die Wirtschaftsordnung der in Zentralafrika gegründeten Kolonie »Freiland«, welche dann auf Beschluß eines in ihre Hauptstadt Edenthal einberufenen Weltkongresses öffentlich erörtert und infolgedessen allerorten eingeführt wird. Hertzka fußt bei der theoretischen Begründung der wirtschaftlichen Mißstände auf den Lehren der Sozialisten, unterscheidet sich aber bezüglich der Mittel und Wege zu deren Beseitigung von ihnen. Er konstruiert nicht einen Zustand, in welchem die Produktionsmittel verstaatlicht sind, sondern sucht Grundrente, Kapitalismus und Unternehmergewinn vom Boden des heutigen Wirtschaftssystems aus zu beseitigen. Was z. B. den Unternehmergewinn anbelangt, so verschwindet dieser, indem sich die Arbeiter zu großen freien Produktivgesellschaften vereinen und somit den Ertrag ihrer Arbeit für sich behalten. Grund und Boden ist herrenlos und jedermann berechtigt, ihn zu bebauen, sowie dessen Früchte einzuheimsen, ohne jedoch ein Grundeigentum zu erwerben. Kapitalien werden vom Staate zinsenlos vorgeschossen. Die Arbeitsleistung erfolgt allgemein durch freie Associationen. In allen wirtschaftlichen Angelegenheiten wird die größte Publizität in Verbindung mit der ausgebildetsten Statistik gehandhabt. Da ferner die Bethätigung der Bewohner die denkbar freieste ist, so erfolgt die jeweilige Anpassung der Produktion an den Bedarf ohne Schwierigkeit. Geld besteht, und zwar nach Goldwährung, ebenso eine Steuer, und zwar eine einheitliche 35proz. auf den Nettoertrag jeder Produktion. Die Frauen und Arbeitsunfähigen werden von Staats wegen erhalten. Die sozialistischen Spuren in Hertzkas »Freiland« sind somit anscheinend gering, und er selbst verwahrt sich auch nachdrücklich gegen eine solche Ansicht. Er will nur der sogen. heutigen Ausbeutung der Arbeiter ein Ende machen und erhofft dies durch die Beseitigung des sonst unangetasteten Eigentums an Grund und Boden, durch die freien Associationen und die zinsenlose Gewährung des beweglichen Kapitals durch den Staat. Führt man aber diese Gedanken konsequent weiter, so zeigt sich, daß eigentlich der Staat zum Besitzer des gesamten beweglichen Kapitals und allenfalls auch des Grund und Bodens und damit wichtiger Bestandteile der Produktionsmittel wird. Hertzka hat sich nicht damit begnügt, seine Gedanken über eine Neugestaltung der Wirtschaftsverhältnisse litterarisch zum Ausdruck gebracht zu haben, sondern versucht auch nach Cabets Vorbild, eine Kolonie »Freiland« zu gründen, indem er einen Verein zur Verwirklichung seiner Ideen bildete, durch die Zeitungen zu Subskriptionen einladet und Mitglieder als Kolonisten wirbt. Im Juli 1891 gab es 24 Lokalgesellschaften mit etwa 1000 »Freiländern«; diese Gesellschaften haben bisher noch keine einheitliche Organisation, sondern es handelt jede für sich selbständig. Die Gründung einer einheitlichen internationalen Freilandsgesellschaft und die Einberufung eines Kongresses aller Freilandvereine wird geplant. Überdies hat sich in Wien ein freiländisches Aktionskomitee gebildet, welches sich die Aufbringung der Beträge für die Ausrüstung der Pfadfinderexpedition« zur Auffindung des Weges von Hargazo am Tana bis zum Kenia, in welcher Gegend Afrikas die Kolonie Freiland gegründet werden, und wo dem Unternehmen bereits eine Landschenkung angeboten sein soll, zur Aufgabe gemacht hat. Auch wurde 1891 ein eignes Organ unter dem Titel »Freiland« begründet, welches alle auf diesen Versuch bezüglichen Nachrichten enthalten und dieselben weiter verbreiten soll. Diesem letztgenannten Zwecke dient auch die Broschüre »Freiland und die Freilandbewegung«, hrsg. vom freiländischen Aktionskomitee (Dresd., Leipz. 1891).

II. Die politischen Staatsromane.

Die politischen S. schildern die besten Staatseinrichtungen. Wird der Staat als Einrichtung zur vollkommensten Erreichung der Menschenzwecke angesehen, so liegt eine solche idealisierende Richtung besonders in jener Zeit nahe, in welcher die Staatsphilosophie entweder in den Kinderschuhen steckt oder rein spekulativ betrieben wird. Für die Entstehung der politischen S. sind aber folgende Momente von Bedeutung geworden: Zunächst die klassische Überlieferung durch Xenophons »Kyropädie«, welche, selbst ein Staatsroman, und zwar der erste, die Trefflichkeit des Absolutismus schildert. Ferner die sogen. Naturrechtsphilosophie mit ihrem Zurückgehen auf einen glücklichen Naturzustand der Völker; es liegt klar zu Tage, daß gerade diese Geistesrichtung auch für die volkswirtschaftlichen S., welche zumeist auch einen erheblichen Teil politischen Inhalts bergen, von größter Bedeutung geworden ist. Endlich ist dann auf das Erstehen eines positiven Staatsrechtes, zunächst in der Form der Staatenkunde, hinzuweisen, welche, von den sogen. alten Universitätsstatistikern eingeführt, sich mit der Beschreibung der Staatsformen bekannter und idealer Staaten befaßte und leicht zu einer idealisierenden Richtung führen konnte. Bezüglich dieses letzten Umstandes der sogen. Staatenkunde sei auf die »Kosmographien« verwiesen, welche mit Sebastian Münster 1536 ihren Anfang nahmen; so beschreibt Francesco Sansovino, einer der ersten dieser Kosmographen, in der Schrift: »Del governo ed amministrazione dei diversi regni ed republiche