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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Agrargesetzgebung

und wirtschaftlichen Gebundenheit unter Entschädigung der bisher Berechtigten überzuleiten suchte in den gegenwärtigen Zustand, der auf die persönliche Freiheit und das freie Privateigentum gegründet ist. Freilich ist eine Entschädigung für die öffentlichen Rechte, die mit gewissen Grundbesitzungen verbunden waren, die Herrenrechte und die persönliche Abhängigkeit der Bauern nicht erfolgt.

In Frankreich hat die Grundentlastung, obwohl das berühmte Dekret vom 4. Aug. 1789 sorgfältig zwischen den einfach aufzuhebenden und den ablösbaren Rechten unterschied, in ihrer Ausführung einen revolutionären Charakter angenommen. In England ist die persönliche Unfreiheit der ländlichen Arbeiter seit dem 14. Jahrh. allmählich thatsächlich verschwunden. Die Lehnsrechte der Krone gegenüber den ursprünglich freien Lehnsbesitzern wurden schon unter Karl II. im wesentlichen aufgehoben, jedoch ist grundsätzlich die Krone auch jetzt noch die Obereigentümerin des sämtlichen Grundes und Bodens. Die Ablösung der Zehnten und der auf den ursprünglichen unfreien, sog. copyholds ruhenden Lasten wurde erst 1836 und 1845 ernstlich in Angriff genommen. In Preußen hatte bereits die Gesetzgebung des 18. Jahrh. die alte Agrarverfassung teils beseitigt, teils gelockert. Allgemein wurde die Erbunterthänigkeit durch Edikt vom 9. Okt. 1807 aufgehoben, jedoch mit der Maßgabe, daß alle Verbindlichkeiten, die den freigewordenen Unterthänigen vermöge des Besitzes eines Grundstücks oder vertragsmäßig oblagen, in Kraft blieben. Das Ausführungsedikt vom 14. Sept. 1811 gewährte den gutsherrlichen Bauern die Möglichkeit, das volle Eigentum an ihren Grundstücken zu erwerben und die Lasten durch Abtretung von Land oder Zahlung einer Rente abzulösen. Eine "Deklaration" vom 29. Mai 1816 beschränkte jedoch zunächst die Regulierbarkeit auf die spannfähigen Bauerngüter. Das Gesetz vom 7. Juli 1821 machte die Reallasten von den zu Eigentum oder Erbpacht besessenen Stellen ablösbar - unter der gleichen Beschränkung. Die letztere wurde erst durch Gesetz vom 3. März 1850 beseitigt, welches zugleich die Erbpacht in Eigentum verwandelte und für die Zukunft verbot. Zur Vermittelung des Ablösungsgeschäftes wurden nach sächs. Muster "Rentenbanken" (s. d.) eingeführt. Die gutsherrliche (patrimoniale) Gerichtsbarkeit, schon im 18. Jahrh. beschränkt, wurde 1848, die gutsherrliche Polizeigewalt durch die Kreisordnung von 1872 abgeschafft. In Österreich erfolgte der endgültige Bruch mit den alten Zuständen erst 1848, die Ablösung erfolgte von Amts wegen unter Kürzung des festgestellten Wertes der abzulösenden Lasten um ein Drittel und Übernahme eines weitern Drittels auf die Staatskasse. In den meisten andern deutschen Staaten gaben die polit. Bewegungen von 1830 und 1848 den Anstoß zu einer ähnlichen A. (S. Frone, Reallasten, Bannrechte.) Hand in Hand mit der Aufhebung der bäuerlichen Unfreiheit und der feudalen Lasten (A. im engern Sinne) ging das Bestreben, das Grundeigentum von den Einschränkungen zu befreien, die als Nachwirkungen des ursprünglichen Gemeinbesitzes, der alten Feldgemeinschaft, erscheinen. (S. Dorfsystem, Gemengelage, Gemeinheit, Flurzwang.) Das bezweckte die Gesetzgebung über Gemeinheitsteilung (s. d.) der Grundstücke. Eine solche Landeskulturgesetzgebung sucht aber auch durch bestimmte positive Maßnahmen den landwirtschaftlichen Betrieb zu fördern. Dahin gehört die Begünstigung von Boden- und Wegeverbesserungen teils durch unmittelbare Staatshilfe, teils durch Einräumung wichtiger Rechte an die Meliorationsgenossenschaften, teils durch Kreditanstalten, wie die Landeskulturrentenbanken (s. d.).

Der Inbegriff der wissenschaftlichen und praktischen Grundsätze, nach denen die A. im wirtschaftlichen und socialen Interesse auf die landwirtschaftlichen Verhältnisse einwirken soll, bildet die Agrarpolitik. In der ersten Hälfte des 19. Jahrh. war sie vor allem auf das Wegräumen des Veralteten bedacht, und sie fußte dabei auf der an sich richtigen Ansicht, daß das reine Privateigentum die der Produktion förderlichste Besitzform sei. Die Erfahrung lehrte aber, daß die Beseitigung aller gemeinwirtschaftlichen Formen auch Nachteile besitzt und die volle Freiheit der Grundbesitzer in Veräußerung und Verschuldung ihres Besitzes sowie die Unterstellung unter das gemeine Erbrecht Gefahren in sich schließt. Daher sind der gegenwärtigen Agrarpolitik neue Aufgaben erwachsen: Man wendet den Gemeindebesitzungen, den Allmenden (s. d.) erneute Teilnahme zu, man sucht die bäuerliche Bevölkerung vor Überschuldung und Wucher durch ein geeignetes Kreditwesen (s. Landwirtschaftlicher Kredit), vor allzu weit gehender Zersplitterung des Besitzes (s. Dismembration) zu schützen und sie durch ein geeignetes Erbrecht (s. Anerbe und Höferecht) in einem gedeihlichen Vermögensstande zu halten. Man fordert, daß in Gegenden mit vorherrschendem Großgrundbesitz der Bauernstand vermehrt und der Arbeiterstand (s. Landwirtschaftliche Arbeiter) ansässig gemacht werde. Vom 28. Mai bis 2. Juni 1894 tagte eine vom preuß. Laudwirtschaftlichen Ministerium berufene Agrarkonferenz, um über Maßregeln zur Hebung des landwirtschaftlichen Gewerbes zu beraten (Bericht darüber im Ergänzungsband 2 der "Landwirtschaftlichen Jahrbücher", Berl. 1894). Auch die noch weiter gehenden Ansprüche der Agrarier (s. d.) fanden bei den Regierungen Beachtung, so durch Berufung der Silberkommission (s. d.) 1894 und des preuß. Staatsrates 1895 zur Beratung über den Antrag Kanitz auf Verstaatlichung des Getreidehandels. (S. Latifundien, Kolonisation [innere], Rentengut, Erbpacht.)

Da in Deutschland das Latifundien- und Pachtwesen geringe Bedeutung hat, kommt die Schaffung eines mittlern und kleinern Grundbesitzerstandes hier weniger in Frage als in Ländern, wo jene Zustände vorherrschen (s. Grundeigentum), namentlich in England. Dahin gehört vor allem das irische Landgesetz von 1881, welches die Festsetzung der Pacht mangels Einigung der Beteiligten durch einen Pachtgerichtshof zuläßt. Der Ankauf der Pachtgrundstücke durch den Pächter wird nach Gesetzen von 1885 und 1891 dadurch gefördert, daß der Staat den durch die Landkommission genehmigten Kaufpreis vorschießt. Ein Gesetz von 1887 (Allottments Act) gestattet Ankauf von Land durch die Orts-Sanitätsbehörden, ja sogar Enteignung zum Zweck der Ansässigmachung von Arbeitern. Über die russische A. s. Bauernemancipation und Mir. - Vgl. Eug. Jäger, Die Agrarfrage der Gegenwart (4 Abteil., Berl. 1882-93); Zeitschrift für Agrarpolitik, hg. von Kuno Frankenstein (ebd. seit 1888); Buchenberger, Agrarwesen und Agrarpolitik (2 Bde., Lpz. 1892-93); Skaŕžyński, Die Agrarkrisis (Berl. 1894); von der Goltz, Die agrarischen Aufgaben der Gegenwart (2. Aufl., Jena 1895).