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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Alkoholismus

sucht, Bauchwassersucht und Erschöpfung (sog. Lebercirrhose, granulierte Leber oder Säuferleber).

Fast immer findet sich bei Trinkern eine Vergrößerung (Hypertrophie) des Herzens, zu der sich späterhin fettige Entartung des Herzmuskels und der größern Gefäße gesellt. (S. Herzverfettung.) Von seiten der Atmungsorgane stellen sich schon bald chronische Kehlkopf- und Lungenkatarrhe ein und bedingen die bläulichrote Gesichtsfarbe, die anhaltende Heiserkeit und Kurzatmigkeit der Gewohnheitstrinker. Die Nieren erkranken nicht selten infolge ihrer gesteigerten Thätigkeit unter der Form der Brightschen Krankheit (s. d.). Sehr zahlreich und bedeutungsvoll endlich sind bei Trunksüchtigen die Erkrankungen des Nervensystems. Blutüberfüllung des Gehirns und seiner Häute, Verdickungen der Hirnhäute, Blutergüsse in das Gehirn (Schlagflüsse), Entzündungen der Hirnsubstanz mit nachfolgender Atrophie derselben (Hirnschwund) sowie analoge Erkrankungen des Rückenmarks und der Sinnesorgane kommen bei Trinkern oft vor und werden die Ursache mannigfacher psychischer Störungen (Hallucinationen, Delirien, Blödsinn, allgemeine Paralyse u. a.). Selbst geringfügige Erkrankungen, operative Eingriffe und Verlegungen sind bei Gewohnheitstrinkern oft von schweren Hirnsymptomen, dem sog. Säuferwahnsinn oder Delirium (s. d.), begleitet.

Eine natürliche Folge dieser Umstände ist es, daß die Sterblichkeitsziffer der Trunksüchtigen eine ganz abnorme Höhe erreicht. Nicht nur, daß eine große Anzahl von Trinkern während oder unmittelbar nach einem Alkoholexzeß plötzlich stirbt, eine noch weit größere erliegt den mittelbaren Folgezuständen des A., namentlich dem Delirium tremens. Nach amtlichen Erhebungen gingen in England in den J. 1847-74: 22 723 Personen an den unmittelbaren Folgen der Trunksucht zu Grunde; in Neuyork ist ein Drittel aller Todesfälle direkt oder indirekt durch den A. bedingt, und in den 38 Jahren 1840-78 sind 190 000 Menschen daselbst durch den Einfluß des Alkohols gestorben, so daß sich William Parker zu dem Ausspruch berechtigt glaubt, daß das Gelbe Fieber gegenüber der Trunksucht ein sehr mildes Leiden für die Menschheit sei. Hierzu kommt, daß unter den tödlichen Verunglückungen ein nicht unerheblicher Teil lediglich durch den A. veranlaßt und herbeigeführt wird; in Frankreich beispielsweise verunglückten im Rausche in der neuesten Zeit durchschnittlich jährlich 404 Personen, im Königreich Sachsen waren 1847-76 unter 17 939 tödlichen Verletzungen 1111 oder 6,2 Proz., im Königreich Preußen 1809-73 unter 33 371 tödlichen Verletzungen 1554 oder 4,6 Proz. notorisch durch Trunkenheit und Trunksucht verursacht. Einen ebenso wichtigen Anteil nimmt der A. am Selbstmord. So ließen sich 1875 in Frankreich 17 Proz., in Dänemark 17,5 Proz., in Preußen 8 Proz., in Sachsen 10,3 Proz., in Rußland sogar 38 Proz. aller Selbstentleibungen auf übermäßigen Alkoholgenuß zurückführen. Nicht minder auffallend ist das Verhältnis der Trunksucht zum Irrsinn; Stark giebt für das Elsaß bei 34 Proz. der Männer und 15 Proz. der Frauen Trunksucht als Ursache des Irrsinns an, und Nasse fand in der Rheinprovinz 27,7 Proz. der männlichen Geisteskranken infolge von Alkoholmißbrauch erkrankt. Hierzu kommt als weiteres wichtiges Moment, daß Trunksüchtige auf ihre Nachkommenschaft gewisse Krankheitsanlagen im Bereiche des physischen, psychischen und moralischen Lebens vererben, welche schließlich eine wesentliche Degeneration der Bevölkerung zur Folge haben, wie dies für einzelne Teile von Schweden, Galizien, Preußen und dem Kanton Bern durch die Verminderung der Militärbrauchbarkeit der heranwachsenden Jugend bereits erwiesen ist; die Kinder von Gewohnheitstrinkern sind meist schwächlich und besitzen häufig eine große Prädisposition zu schweren Nervenkrankheiten (Epilepsie, Veitstanz, Idiotie u.s.w.) und zu Geistesstörungen.

Der A. führt zu den schwersten Nachteilen für die Wohlfahrt der Familie, der Gemeinde und des Staates, insofern er die ergiebigste Quelle der Einzel- wie der Massenarmut darstellt, das Familienglück dauernd vernichtet, die Prostitution fördert und den Sinn für öffentliche Ordnung und Rechtssitte völlig untergräbt. In welch einschneidender Weise der Nationalwohlstand durch den Alkoholmißbrauch in Mitleidenschaft gezogen wird, geht aus der Thatsache hervor, daß die Ausgaben für Schnaps nach Brüning jährlich in Preußen 261, in England 1200, in der kleinen Schweiz jährlich 120 Mill. M. betragen, und doch bilden diese direkten Ausgaben nur einen geringen Teil derjenigen Schäden, welche dem Nationalvermögen durch die Trunksucht und ihre Folgezustände zugefügt werden. Wie groß der Einfluß ist, den der A. auf die Häufigkeit und die Art der Verbrechen ausübt, haben erst neuerdings wieder die verdienstlichen Untersuchungen von Baer gezeigt, nach denen sich in Deutschland 1874 unter 32 837 Gefangenen 13 706 (41,7 Proz.) Trinker und zwar 7269 (22,1 Proz.) Gelegenheitstrinker und 6437 (l9,6 Proz.) Gewohnheitstrinker befanden. Hinsichtlich der verschiedenen Arten der Verbrechen ließ sich nachweisen, daß der Mord in 46,1 Proz., der Totschlag in 63,2 Proz., Körperverletzungen schwerer Art in 74,4 Proz., solche leichterer Art in 63 Proz., Widerstand gegen die Staatsgewalt in 76,5. Proz., Vergehen gegen die Sittlichkeit in 77 Proz. der Fälle im Zustande der Trunkenheit verübt worden waren. Ebenso wurden in England nach amtlichen Erhebungen drei Viertel bis vier Fünftel sämtlicher Verbrechen unter dem Einfluß des Alkohols begangen. Mit der Zunahme der Trunksucht steigt naturgemäß die Zahl der Verbrechen, während umgekehrt überall da, wo sich eine Abnahme des Alkoholverbrauchs konstatieren läßt (z. B. in Irland infolge der Bestrebungen des Pater Mathew, in Schweden nach energischen Repressivmaßregeln der Staatsgewalt), sich eine starke Verminderung zeigt.

Hinsichtlich der Bekämpfung der Trunksucht muß vor allem betont werden, daß nur dann ein sicherer Erfolg erwartet werden kann, wenn Staat und Gesellschaft gemeinsam gegen den A. energisch Stellung nehmen. Was sich von seiten einzelner privater Vereine durch Opferwilligkeit, Humanität und zähe Beharrlichkeit im Kampfe gegen die Trunkfälligkeit erreichen läßt, haben die seit l808 in Nordamerika wirkenden Mäßigkeits- und Abstinenzgesellschaften, die über England seit 1829 verbreiteten Temperanzgesellschaften (s. d.), ferner die wunderbaren Erfolge des irischen Enthaltsamkeitsapostels Pater Mathew, der in den J. 1838-56 über einer Million Menschen das Gelöbnis der Abstinenz abnahm, sowie die ersprießliche Thätigkeit der schwed. Mäßigkeitsvereine zur Genüge bewiesen. Auch die in Deutschland begründeten Mäßigkeitsvereine nahmen einen vielversprechenden Anlauf, fanden aber unter den polit. Wirren des J. 1848 ein plötzliches Ende. Die Errichtung und Unterstützung derartiger