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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Bismarck (Otto Eduard Leopold, Fürst von)

rufen schien, bot er alles auf, um den Frieden zwischen beiden Mächten zu erhalten. Auf dem Berliner Kongreß (s. d.) wurde B. das Präsidium übertragen. Aber Rußland fand sich durch das Ergebnis des Kongresses nicht befriedigt und machte B. dafür verantwortlich. Gegenüber den Drohungen Rußlands, das von Deutschland rückhaltlose Unterstützung seiner orient. Politik gegen Österreich verlangte, schloß B. 1879 in Wien eine 7. Okt. unterzeichnete deutsch-österr. Defensivallianz ab. Doch besserten sich die Beziehungen Rußlands zu Deutschland, und als nach der Ermordung des Kaisers Alexander Ⅱ. 13. März 1881 dessen Sohn Alexander Ⅲ. den russ. Thron unter den schwierigsten Umständen bestieg, hatte derselbe 8. Sept. mit Kaiser Wilhelm eine Zusammenkunft in Danzig, wobei B. sowohl mit dem russ. Kaiser als mit dessen Ratgebern längere Unterredungen hatte. Die Beziehungen zu Rußland wurden noch günstiger, nachdem 1882 Fürst Gortschakow in den Ruhestand versetzt, der panslawistische Minister des Innern, Graf Ignatjew, seines Amtes entbunden und der friedliebende Herr von Giers (s. d.) zum Minister des Auswärtigen ernannt worden war. Es gelang B., im Sept. 1884 die Dreikaiserzusammenkunft in Skierniewice zu stande zu bringen, an der außer den Monarchen auch ihre leitenden Minister: Fürst B., Graf Kalnoky und von Giers, teilnahmen, und dadurch Österreich und Rußland, deren Interessen sich auf der Balkanhalbinsel vielfach durchkreuzten, einander näher zu bringen. Im vorhergehenden Jahr hatte aber B. auch schon Italien bewogen, sich dem Verteidigungsbündnisse Deutschlands und Österreichs als dritte Macht anzuschließen.

Dieser verhältnismäßig glücklichen Gestaltung der europ. Lage entsprach freilich nicht im Innern des Reichs ein glatter Fortgang der von B. geplanten Reformen. Vergeblich verteidigte er den dem Reichstage vorgelegten Gesetzentwurf über Einführung des Branntweinmonopols 26. März 1886 in einer längern Rede. Aber es zeigte sich doch, daß das Gefühl der Verehrung und Dankbarkeit für B. in der Nation tief wurzelte. Als die Reichstagsmehrheit ihm 15. Dez. 1884 die Bewilligung von 20000 M. zur Errichtung einer dritten Direktorstelle im Auswärtigen Amt verweigerte, obgleich er nachgewiesen hatte, daß der immer mehr anschwellenden Arbeitslast seine und seiner Untergebenen Kraft und Gesundheit nicht gewachsen sei, erhob sich in ganz Deutschland ein Sturm der Entrüstung, und der Gedanke einer «Bismarck-Spende» brach sich alsbald Bahn. Sie wurde dem Fürsten an seinem 70. Geburtstage, 1. April 1885, übergeben. Von dieser Spende wurden 1200000 M. zum Ankauf des Gutes Schönhausen verwendet, dessen größerer Teil unter der wirtschaftlichen Ungunst der Zeit der Familie B. verloren gegangen war, und 1200000 M. dem Fürsten zur freien Verfügung für öffentliche Zwecke übergeben, worauf er eine «Schönhauser Stiftung» zur Unterstützung deutscher junger Männer, die sich dem höhern Lehrfach an deutschen höhern Lehranstalten widmen, errichtete. (S. Schönhausen.) Die Geburtstagsfeier nahm die größten Dimensionen an. Der Kaiser selbst erschien mit allen Prinzen seines Hauses in der Wohnung des Jubilars.

Bezeichnend war B.s Stellung zu der 1884 beginnenden kolonialen Bewegung. Er hat sie nicht unmittelbar mit angeregt, und es lag ihm fern, das Reich als solches in weit aussehende koloniale Unternehmungen zu stürzen; aber er verkannte nicht, daß die Bewegung auch der Belebung des nationalen Gefühles zu gute komme, und hielt es für Pflicht gegen die Würde des Reichs, den deutschen Unternehmer da, wo er festen Fuß fasse, zu schützen. So erklärte er durch das Telegramm vom 24. April 1884, daß die von dem Bremer Kaufherrn Lüderitz in Südwestafrika angekaufte Besitzung unter den Schutz des Reichs gestellt sei. Es folgten die übrigen überseeischen Erwerbungen (s. Deutsche Kolonien). Hauptsächlich von England wurden dabei große Schwierigkeiten gemacht; aber es gelang B., durch Verträge, die mit England, Frankreich und Portugal abgeschlossen wurden, das Erworbene zu sichern und in Ostafrika den Sultan von Sansibar durch Absendung des deutschen Panzergeschwaders von Feindseligkeiten abzuhalten. Gleich erfolgreich war die auf B.s Anregung berufene Kongokonferenz, die unter seinem Vorsitz Nov. 1884 bis Febr. 1885 in Berlin tagte. Der durch die Besetzung der Karolineninseln 1884 mit Spanien entstandene Streit wurde durch Papst Leo ⅩⅢ., den B. als Schiedsrichter und Vermittler vorgeschlagen hatte, beigelegt, was jenem Veranlassung gab, B. 31. Dez. 1884 den Christusorden in Brillanten, den noch kein Protestant erhalten hatte, nebst einem sehr anerkennenden Handschreiben zu überschicken. Die Mittel zur Ausführung dieser Kolonialpolitik und zur Unterstützung des überseeischen Handels mußte B. der Reichstagsmehrheit geradezu abringen. Die Dampfervorlage, welche die Einrichtung und Unterhaltung von regelmäßigen Postdampfschiffsverbindungen zwischen Deutschland, Ostindien und Australien bezweckte, scheiterte 1884 an der Opposition und wurde erst 23. März 1885 nach langen Kämpfen vom Reichstag genehmigt.

Um die Fortschritte des Polentums in Posen und Westpreußen zu hemmen, entschloß sich B., die Tradition der preuß. Verwaltung in Posen von 1832 bis 1840 wieder aufzunehmen; hieran und an seine Haltung im poln. Aufstande 1863 anknüpfend verteidigte er 28. Jan. 1886 die dem Landtage vorgelegten Gesetze über den Ankauf poln. Güter, Errichtung deutscher Schulen u. s. w. Den Ausgangspunkt der von B. geförderten wirtschaftlichen Hebung der untern Klassen, des «praktischen Christentums», das er pflegen wollte, bildete die kaiserl. Botschaft vom 17. Nov. 1881, die ihre Erfüllung fand in dem Krankenkassengesetz von 1883, dem Unfallversicherungsgesetz 1884 und dem Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz 1889. (S. Socialpolitik.)

Eine neue europ. Krisis begann in der zweiten Hälfte des Jahres 1886 heraufzuziehen durch das Auftreten des franz. Kriegsministers Boulanger und das Vorgehen Rußlands gegen den Fürsten Alexander von Bulgarien. Die öffentliche Meinung wallte auch in Deutschland heftig auf und forderte Parteinahme für den vertriebenen Fürsten; in scharfem Gegensatz zu ihr ließ B. erklären, daß keinerlei deutsche Interessen ins Spiel kämen, um Deutschland deswegen in unabsehbare Verwicklungen zu stürzen. Wieder war B.s Gedanke dabei unbedingte Erhaltung der Freundschaft mit Rußland, solange nicht Deutschlands Interesse und Ehre angetastet sei. Gleichzeitig unterhandelte B., jedenfalls auch in diesem Sinne, 26. Aug. 1886 in Franzensbad mit dem russ. Minister von Giers, nachdem in Kissingen und Gastein Unterredungen mit dem Grafen Kalnoky und dem Kaiser Franz Josef vorangegangen