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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

Reich unserer Litteratur starke Förderung gebracht hätte. Die stets anwachsende Unruhe, die unsere komplizierten polit. und socialen Verhältnisse mit sich bringen, sind der stillen Sammlung, aus der die Dichtung emporblüht, ebenso ungünstig wie das Überwuchern der materiellen Interessen; zumal die Lyrik leidet darunter. Die Reichshauptstadt Berlin, die zuweilen Ansprüche auf eine in Kritik und Produktion ähnlich führende Stellung erhebt, wie Paris und London sie haben, hat sich bisher dieser Rolle nicht gewachsen gezeigt und wird sie, dank der erfreulichen Vielheit unserer geistigen Centren, nie erreichen. Der Einfluß des besiegten Frankreichs war während der ganzen Zeit seit 1870 ungewöhnlich groß, nicht immer segensreich. Von den polit. Tendenzen hat der "Kulturkampf" zeitweilig mehr Staub aufgewirbelt; er kommt oft zur Sprache in den wenig wertvollen Frauenromanen der "Gartenlaube" (Marlitt, E. Werner u. a.); aber auch in Anzengrubers Volksstücken, in Wilh. Buschs komischen Epen und sonst brechen verwandte Tendenzen durch, während auf kath. Seite Konr. von Bolanden umfängliche, etwas plumpe Romane ins Feuer sandte. Der Roman, an dem sich Frauen durchweg stark beteiligen, steht dauernd im Vordergrunde. Die bedeutendste Gestalt des Zeitabschnitts ist unzweifelhaft der Märker Theodor Fontane (geb. 1819), längst durch treffliche Balladen und liebenswürdig anschauliche Schilderungen seiner märkischen Heimat bekannt, der neuerdings in einer Anzahl von Berliner Romanen überraschende Schärfe und Realistik der Detaildarstellung an den Tag gelegt hat; neben ihm treten die schwülen Gesellschafts- und Künstlerromane der Ossip Schubin, die pessimistisch unruhigen Erzählungen Wilh. Jensens zurück, während die vornehme, maßvolle, des Humors nicht unfähige Darstellungskunst der Baronin Marie von Ebner-Eschenbach keinen Vergleich zu scheuen braucht. Der geschichtliche und archäol. Roman gedieh namentlich in Professorenhänden und genoß lange eine künstlerisch kaum gerechtfertigte Beliebtheit, so die Romane von Dahn, Ebers, Hausrath, zu denen der Romancier Ostpreußens, Ernst Wichert, dessen "Ein Schritt vom Wege" zu unsern besten neuern Lustspielen zählt, treten mag. Der moderne Geschichtsroman ist von Gregor Samarow mit den rohesten Effekten ausgestattet worden. Die histor. Novelle hat Konr. Ferd. Meyer mit Geist und glänzender Gestaltungskraft herausgearbeitet; auch Ludwig Laistner fühlt sich im Mittelalter besonders wohl. Während uns Sacher-Masoch, Vacano, Lindau und zumal die zahlreichen Autoren von Kriminalgeschichten mit Vorliebe in die schwüle Atmosphäre moderner Großstadtsitten hineinführen, betont Jul. Stinde die fast kleinstädtisch behaglichen Seiten Berliner Familienlebens und weiß Heinr. Seidel mitten in Spreebabel sich einen Poetenwinkel stillvergnügter, natursinniger Genügsamkeit zurechtzumachen. Dieselbe Neigung zur Weltflucht kennzeichnet den hochbegabten, im Grunde melancholischen Humoristen Wilh. Raabe (geb. 1831); der derbere Humor Fr. Th. Vischers schreckt in dem Romane "Auch Einer" auch vor den grellsten tragischen Farben nicht zurück. Als glücklicher, humorvoller Novellist von vielseitigen Vorzügen, vortrefflich in der Naturschilderung, in der histor. Färbung, in der heitern Auffassung des Kleinstadtlebens hat sich neuerdings Hans Hoffmann erwiesen. Das Epos tritt dagegen ganz zurück, kaum minder die Lyrik. Jul. Wolffs äußerlich stilgemäße epische Erzählungen sind noch ein Nachklang des romantischen Epos in der Art des Scheffelschen Trompeters, wie Scheffels muntere Lieder in Baumbachs graziöser, aber nicht eben mannigfacher Spielmannspoesie fortwirken; origineller, ein leidenschaftlich und sinnlich vertiefter Nachklang Heines, ist Grisebachs Liedercyklus "Der neue Tannhäuser"(1869). Das Drama hat immer noch einige Jambendichter höhern Stils aufzuweisen, wie den eifrigen H. Kruse, Adolf Wilbrandt, Fitger, den Festspieldichter Hans Herrig u. a.; nachhaltiger drang nur Ernst von Wildenbruch (geb. 1845) durch. Ernste Volksstücke schrieb Anzengruber u. a., heitere l'Arronge, geistreiche Lustspiele Wilh. Jordan, moderne Sittenprobleme behandelte Rich. Voß; große Bühnenerfolge hatten Moser, Schönthan, Kadelburg, Blumenthal mit Lustspielen, Lindau mit Konversationsstücken und einigen ernsten Dramen.

Die jüngste Generation unserer Dichter huldigt unter dem starken Einfluß franz., skandinav. und russ. Vorbilder (Zola; Ibsen, Strindberg; Dostojewski, Tolstoi) mit kampfesmutigem Feuereifer einer scharf naturalistischen Richtung, die doch durch symbolistische Neigungen bei ihren bedeutendern Vertretern allmählich sich von selbst korrigiert. Noch haben sich unter unsern Jüngsten nicht viele aus der Periode trüber künstlerischer und socialer Gärung herausgearbeitet. Immerhin hat sich Hermann Sudermann als bedeutender Romanschriftsteller ("Frau Sorge", 1887) und erfolgreicher Bühnendichter bewährt; auf den Dramatiker Gerhart Hauptmann, der zwar hinreißender dramat. Kraft noch entbehrt, aber für die Zeichnung von Personen und Situationen, für die Kunst, Stimmung zu schaffen, treffliche Gaben mitbringt, setzen viele große Erwartungen; die Lyrik von Detlev von Liliencron, Arno Holz u. a. zeigt Frische und Klang. Auch der Novellisten Wolfgang Kirchbach und M. G. Conrad, des Romanschriftstellers Max Kretzer, des Tragikers Max Halbe sei gedacht. Die häßlichen Auswüchse, die gerade in Zeiten eines einseitigen Naturalismus sich lärmend und anspruchsvoll vorzudrängen pflegen, dürfen doch nicht verkennen lassen, daß die Dichtung unserer Tage ein frisches Leben besitzt.

Von den zahlreichen Hilfsmitteln für das Studium der Geschichte der D. L. seien hervorgehoben:

1) Gesamtdarstellungen. Das grundlegende Werk von Gervinus, "Geschichte der deutschen Dichtung" (5 Bde., Lpz. 1835-40; 5. Ausg., hg. von Bartsch, ebd. 1871-74), ist trotz der oft einseitigen ästhetischen Beurteilung wegen seiner geistvollen und selbständigen Darstellung und Gruppierung noch heute unveraltet. Die gelehrten Arbeiten von Koberstein ("Grundriß zur Geschichte der deutschen Nationallitteratur", Lpz. 1827; 5. Aufl., 5 Bde., hg. von Bartsch, ebd. 1872-74), von Wackernagel ("Geschichte der D. L.", Basel 1848; 2. Aufl., 2 Bde., hg. von Martin, ebd. 1879-94), von Goedeke ("Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung", 3 Bde., Hannov. und Dresd. 1856-81; 2. Aufl., bis 1894 5 Bde., Dresd. 1884 fg.) legen mehr Wert aus gründliche Sammlung und Verarbeitung des Materials als auf fesselnde Darstellung, bilden aber die Grundlage jeder litterarhistor. Forschung. In Vilmars trefflich geschriebener "Geschichte der deutschen Nationallitteratur" (Marb. 1845; 23. Aufl. 1890) tritt der ausgesprochen protestantisch kirchliche, in Lindemanns "Geschichte der D. L." (Frei-^[folgende Seite]