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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsches Volk

die Kriege gegen die heidn. Preußen ziemlich entvölkert. Der Orden rief aus allen deutschen Gauen, namentlich aber aus Niedersachsen und Niederfranken, Bauern und Bürger ins Land, die es kaum 50 Jahre nach der Eroberung zu einem "neuen Deutschland" machten. Auch Kurland und Semgallen, Livland und Esthland hat seit dem 13. Jahrh. eine deutsche Bevölkerung erhalten. Überall waren es wirtschaftliche Vorteile, welche die deutschen Bauern veranlaßten, sich im Osten eine neue Heimat zu gründen. Zum Teil galt es, bisher unbebaute Landstriche urbar zu machen. Kirche und Staat förderten diese Kolonisation. Einerseits waren es besonders die Cistercienser, die deutsche Ansiedler herbeiriefen, andererseits die Fürsten; selbst die slaw. Fürsten glaubten ihr Land am besten durch Begünstigung der deutschen Kultur zu heben. Ins 13. bis 14. Jahrh. fallen die Walserkolonien in Graubünden (s. Walser).

Im 16. Jahrh. beginnen die Hohenzollernschen Kolonisationen der vertriebenen Reformierten. Mennoniten wanderten im 16. Jahrh. in das Marienburger Land ein. Unter dem Großen Kurfürsten kamen zahlreiche Niederländer, teils gerufen, teils von selbst, kulturbringend in die Brandenburgischen Lande. Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. siedelten viele Waldenser und Mennoniten, süddeutsche Protestanten, Schweizer und Salzburger in ihrem Lande an. Anfang des 18. Jahrh. wurden in Preußen 330 neue Kolonistendörfer angelegt, deren Bewohner aus der Schweiz, aus Franken, Schwaben und vom Mittelrhein kamen. 20 Jahre später fanden 17000 ausgetriebene Salzburger in dem durch die Pest verödeten Ostpreußen eine Heimstätte. Am großartigsten waren die Kolonisationen Friedrichs d. Gr. In zwei großen Kolonisationsperioden hat er im ganzen 43000 Familien mit etwa 300000 Köpfen, namentlich aus Südwestdeutschland, in gegen 900 neuen Kolonistendörfern angesiedelt. Seit 1770 legte er in Schlesien längs der damaligen poln. Sprachgrenze eine Reihe deutscher Dörfer an. Besonders kolonisierte er seine 1772 neuerworbenen menschenarmen Provinzen Westpreußen und den Netzedistrikt. In der Zeit von dem Großen Kurfürsten bis zum Schluß der Regierung Friedrichs d. Gr. waren ungefähr ein Drittel der Bevölkerung (1 Mill.) des brandenb.-preuß. Staates Kolonisten und deren Nachkommen. Von den Kolonien der neuesten Zeit versprechen die in Deutsch-Polen die bedeutsamsten zu werden (s. Ansiedelung). 1886-92 sind im ganzen 1146 Familien im Posenschen angesiedelt worden.

Wie Friedrich d. Gr. in Preußen, so förderten Maria Theresia und Kaiser Joseph in Österreich die deutsche Kolonisation. Auf ihren Betrieb hin wohnen die (1880: 450000) Deutschen im Banat. Aus dem letzten Viertel des 18. Jahrh. stammen die deutschen Ansiedelungen in der Bukowina. - Die deutschen Kolonien im südl. Rußland sind in der Hauptsache in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrh. angelegt worden. Die Kaiserin Katharina II. regte die Besiedelung der Wolgasteppe durch Deutsche an, seit 1763. Im J. 1765 wurde die Herrnhuter Brüdergemeine Sarepta gegründet. Die schwäb. und mitteldeutschen Wolgakolonien wurden 1768 angelegt. Die evang. Wolgakolonisten sind zumeist aus Württemberg und der Pfalz (infolge der Verwüstung der Pfalz durch den franz. General Melac) gekommen, viele auch aus Lothringen, dem Elsaß, Baden, der Schweiz, aus Holland, Westfalen, Holstein, Sachsen, Schlesien und Ostpreußen. 1783 siedelten sich preuß. Mennoniten bei Jekaterinoslaw an. Seit 1789 zogen Mennoniten an den Dnjepr (westlich von Alexandrowsk). 1804 wurden durch eine zweite Mennoniten-Auswanderung an der Molotschna in Taurien 88 deutsche Dörfer gegründet. Es folgen die Kolonien in der Krim, dann in Bessarabien. Schwaben sitzen seit 1820 in der Umgegend von Tiflis (Marienfeld, Alexanderdorf, Elisabeththal, Katharinenfeld, Helenendorf, Annenfeld). Heute wohnen in Transkaukasien etwa 10000 Deutsche. Der Zuzug deutscher Einwanderer nach Südrußland dauerte bis in die Gegenwart fort.

Europa zählt (1890) unter seinen 357 Mill. E. mit Ausschluß der Holländer und Vlämen über 16 Proz. Deutsche. (S. auch Deutsche Sprache, S. 83-86.)

Außerhalb Europas hat die deutsche Auswanderung nach Nordamerika in neuerer Zeit einen gewaltigen Umfang angenommen. Sicherlich der vierte Teil der Weißen in den Vereinigten Staaten ist deutscher Abstammung. 1889 wurde deutsch in den Vereinigten Staaten von über 7 Mill. (ungefähr ein Siebentel der Bevölkerung) gesprochen. Anfang des 17. Jahrh. gründeten Niederländer Neu-Niederland mit der Hauptstadt Neu-Amsterdam, das nachmals die Engländer in Neuyork umtauften. In den achtziger Jahren des 17. Jahrh. begann die Auswanderung nach Pennsylvanien und nahm bald erheblich zu. Als Penn sich 1682 in Pennsylvanien niederließ, brachte er eine große Anzahl Deutscher, hauptsächlich Rheinpfälzer mit. Es folgten besonders 1708-20 große Scharen nach. Weitere starke Einwanderungen fallen in die Mitte des 18. Jahrh. und in die siebziger Jahre desselben. Zur Zeit der Trennung von England war die Hälfte der Bevölkerung Pennsylvaniens deutsch. Der Hauptstrom der deutschen Auswanderer ergoß sich im 19. Jahrh. nach Amerika; am größten ist der Anteil der Einwohner deutscher Abstammung in Ohio, Wisconsin und Illinois, dann in Pennsylvanien, Indiana, Iowa, ferner in Maryland, Minnesota, Westvirginien, Kansas, Michigan und Neuyork. Im engl. Nordamerika ist Neubraunschweig die älteste deutsche Niederlassung; von der Masse deutscher Einwanderer, welche in diesen Gegenden landet, bleibt nur ein geringer Teil zurück; dennoch wurden 1881 in Canada über 250000 E. deutscher Abkunft gezählt. In den Vereinigten Staaten wohnen (1890) 2784894 Deutsche. Über die deutsche Auswanderung nach andern Teilen von Amerika, nach Afrika und Australien s. Auswanderung (Bd. 2, S. 184) sowie die Artikel der betreffenden Länder.

Litteratur. O. Kämmel, Die Entstehung des österr. Deutschtums, Bd. 1: Die Anfänge deutschen Lebens in Österreich bis zum Ausgange der Karolingerzeit (Lpz. 1879); F. v. Krones, Die deutsche Besiedlung der östl. Alpenländer, insbesondere Steiermarks, Kärntens und Krains (Stuttg. 1889); Blochwitz, Die Verhältnisse an der deutschen Ostgrenze zwischen Elbe und Donau zur Zeit der ersten Karolinger (Dresd. 1872); von Wersebe, Über die niederländ. Kolonien, welche im nördl. Teutschland im 12. Jahrh. gestiftet worden (2 Bde., Hannov. 1815-16); L. Giesebrecht, Wend. Geschichten aus den J. 780-1182 (3 Bde., Berl. 1843); E. de Borchgrave, Histoire des colonies belges qui s'établirent en Allemagne pendant le XII<sup>e</sup> et le XIII<sup>e</sup> siècle (Brüss. 1865); A. Meitzen, Die Ausbreitung der Deutschen in Deutschland und ihre Be-^[folgende Seite]