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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Gefühl (psychologisch)
Empfindungen in zwei Gruppen: in die Tastempfin-
dungen und in die Gemeingefühle. Die Tast-
empfindungen sind solcbe, welche wir auf Dinge
außer uns beziehen. Wenn wir z. B. einen Gegen-
stand betasten, so verwenden wir die dabei in un-
serer Haut entstehenden Druckempfindungen dazu,
uns eine Vorstellung von dem betasteten Dinge zu
machen: wir sehen also ganz von unserer Empfin-
dung als solcher ab und fassen sie vielmehr so auf,
als wären sie eine Eigenschaft des betasteten Dinges.
Drückt ein Gewicht unsere Haut, so beziehen wir
die Empfindung nicht auf die gedrückte Haut, son-
dern auf die Schwere des Gewichts. Tauchen wir
die Haut in warmes Wasser, so beziehen wir die
empfundene Wärme aufs Wasser, nicht auf unsere
Haut. (S. Tastsinn.) Anders verhält es sich mit
den Gemeingefüblen. Diese beziehen wir stets
auf uns selbst, fassen sie als Zustände unsers Kör-
pers, beziehentlich bestimmter Teile desselben auf.
Dahin gehört vor allem das G. des Schmerzes und
der sinnlichen Lust. Solange ein Ding nur so
warm ist, daß es uns nicht brennt, beziehen wir die
Wärme auf das Ding; sobald es uns aber Schmerz
verursacht, verlegen wir diesen Schmerz in unsere
Haut. Die G. des Hungers, Durstes, Ekels, der
Sättigung, des Kitzels, des Juckens, innerlicher Hitze
oder Kälte, des allgemeinen Wohl- oder Übelbefin-
dens , der Munterkeit oder Mattigkeit u. s. w. ge-
hören sämtlich in die Klasse der Gemeingefühle.
(S. Gemeingefühl.)
In der Psvcd ologie bezeichnet G. im weitern
Sinne des Wortes unter den innern Zuständen des
Bewußtseins den leidenden Anteil derselben im
Gegensatz zum Wollen, Denken, Anschauen und
Einbilden als dem tbätigen Anteil. In dieser Be-
deutung geboren zu den G. außer den afscktvollen
Zuständen des Gemüts auch die Empfindungen aus
den Affektionen der Sinnorgane, insbesondere die
des Gefühlsinns. lS. Gefühl, physiologisch.) Im
engern oder psychol. Sinne wird das G. von der
Empfindung (s. d.) unterschieden als derjenige ein-
fache Bewußtseinsinhalt, der keine specifische Ab-
hängigkeit von peripherischen Sinnesorganen auf
weist und in dem Gegensatz von Lust und Unlust
erlebt wird. Wegen der engen Verbindung, in der
das G. mit den Empfindungen (s. d.) steht, wird es
auch oft als Gefühlston zu einer Eigenschaft der-
selben gemacht. In der engl. Psychologie bezeichnet
"kscliiiL" einen kompleren Zustand, die Verbin-
dung von Empfindungen und G. Die überaus
große Mannigfaltigkeit der G. von der niedrigsten
Sinnenluft bis zu den erhabensten und edelsten G.
für Schönheit und Tugend, ihre flüchtige, in fort-
währenden Verwandlungen begriffene Natur, ihre
ost leisen und allmählichen, oft stürmiscken und ge-
waltsamen Übergänge, das Unwillkürliche und Ge-
heimnisvolle ihrer Entstehung, die Macht, die sie
über den Menschen ausüben, die tausendfältigen
Modifikationen, denen sie nach Alter, Geschlecht,
Bildungsgrad u. s. w. unterliegen, das alles macht
sie für die Beobachtung und Darstellung zu einem
unerschöpflicb reichen Stoffe, erschwert aber für die
Psychologie eine geordnete und erschöpfende Über-
sicht der Merkmale der verschiedenen G. Die Ein-
teilung derselben in sinnliche (materielle) und geistige
< ideelle oder intellektuelle) G. ist eine Einteilung
nicht sowohl der G. als vielmehr der dieselben ver-
anlassenden Objekte. Auch die Unterscheidung von
Material- und Formalgefühlen, von denen jene
durch die Qualität der Empfindungen, diese durch
die räumliche oder zeitliche Beschaffenheit derselben
(Gestalt - Rhythmus) bedingt sind, konstatiert nicht
einen specifischen Unterschied der G. Vielleicht giebt
es keine andern qualitativen Differenzen als die in
den Begriffen der Lust und Unlust angedeuteten, und
im übrigen nur die mannigfaltigsten Abstufungen
in der Stärke, Dauer und Häufigkeit. Zwischen diesen
beiden Gegensätzen befindet sich ein Indifserenz-
punkt der Gefühllosigkeit.
Wichtiger erscheint eine Unterscheidung der G.,
welche auf dem Verhältnis des Fühlens zu dem
Begehren beruht. Sehr viele G. bestehen lediglich
in der Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer
vorausgegangenen Begierde. Nennt man diese G.
subjektive, so heißen objektive die unabhängig von
der bloßen Begierde durch die Beschaffenheit des
Gegenstandes selbst bedingten, wie die ästhetischen
und sittlichen G. für das Schöne und das Gute samt
ihren Gegenteilen. Diese G. charakterisiert ein be-
gierdeloses Wohlgefallen oder Mißfallen an dem
Gegenstande selbst, daher sie auch, wo sie sich rein
und unvermischt mit fremdartigen Zusätzen ankün-
digen, mit dem Ansprüche auf allgemeine Zustim-
mung auftreten. Aber auch diese Unterscheidung
nach den Folgeerscheinungen eines G. ist keine quali-
tative Einteilung der G. selbst. Viele unter den
ältern Psychologen suchten das Gefühlsvermögen
vom Begehrungsvermögen streng zu trennen. Die
neuern haben diese Trennung aber darum wieder
aufgegeben, weil ein Begehren oder ein Trieb ohne
G. gar nicht denkbar ist und sich meist mit dem G.
der Lust das Streben nach Beibehaltung derselben,
mit dem der Unlust der Trieb nach Beseitigung die-
ses G. verbindet. Spinoza nimmt an, daß die Lust-
gefühle als solche eine Erhaltung des Lebens, die
Unlustgefühle hingegen eine Störung desselben an-
deuten, das Leben aber überall nach Selbsterhaltung
strebt. Auf einer Vermengung dessen, was Psycho-
logisch als G. und als Empfindung oder Vorstellung
zu bezeichnen ist, beruht es, wenn auf Grund der
Thatsache, daß undeutliche Vorstellungen neue Er-
kenntnisse anticipieren können, einige Philosophen,
wie Hamann, Iacobi und Fries, das Gefühls-
vermögen in Beziehung auf alle höchsten Ideen
für das einzige Erkenntnisvermögen gehalten und
die Bemühungen des Verstandes um Verdeutlichung,
insbesondere der religiösen Begriffe, unterschätzt
haben. Dieses Verfahren streitet ebenso sehr gegen
den wissenschaftlichen Fortschritt als das entgegen-
gesetzte, das alles, was nicht schon im gegenwärtigen
Augenblicke in deutlichen Begriffen erkannt und be-
wiesen werden kann, eben damit auch schon für nicht
vorhanden und unerreichbar hält. Vielmehr beruht
in den G., die das Nachdenken überall begleiten,
ein unentbehrlicher, die Wege weisender Takt des
Erkennens, ohne den die Erkenntnis oft ihrer ge-
heimen ermunternden Anreize entbehren würde.
Dennoch darf man sich bei keiner Art von Erkennt-
nis auf sein bloßes vermeintlich gesundes G. als
alleinigen Erkenntnisgrund verlassen.
Die Thatsachen derÄnalgesie (s. d.), der Verlang-
samung der ^chmerzempsindung u. a. haben zu der
AnnahmeeinesbesonderngefühlerzeugendenNerven-
prozesscs (Lotze) geführt. Als die centralc Grundlage
der Lust und Unlust hat man die Ernährungszustände
! der Großhirnrinde betrachtet lMeynert) oder die-
jenigen Nervenerregungen, welche in dem Organ der
Apperzeption (s. d.) zu stände kommen (Wundt).