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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Germanische Sprachen

Urgeschichte der altgerman. Dialekte (in Pauls "Grundriß der german. Philologie", Bd. 1, Straßb. 1889). Bis in das 4. Jahrh. n. Chr. zurück reichen die ältesten Runeninschriften (s. Runen), die teils in Deutschland, namentlich aber in Dänemark und dem südl. Schweden und Norwegen gefunden worden sind. Die früheste schriftliche Aufzeichnung in der heimischen Sprache ist die got. Bibelübersetzung des Ulfilas (s. d.). Im übrigen beginnt die Überlieferung in England Ende des 7., in Deutschland Mitte des 8. Jahrh. In Skandinavien geben an 100 Runeninschriften Kunde von der Sprache des 4. bis 7. Jahrh., weit mehr für die folgenden Jahrhunderte; die handschriftliche Überlieferung beginnt hier erst seit Ausgang des 12. Jahrh. Für die ausgestorbenen Sprachen der Rugier, Gepiden, Vandalen, Burgunden und Langobarden sind wir auf Eigennamen und verstreut überlieferte Wörter angewiesen. Gar nichts weiß man über die Sprache des östlichsten der german. Stämme, der Basternen (Bastarnen).

Die G. S. zerfallen in drei Gruppen: 1) Ostgermanisch, die Sprache der Ostgermanen (s. d.), deren Repräsentant für uns die got. Bibelübersetzung ist; 2) Nordgermanisch oder Skandinavisch, auch schlechtweg Nordisch genannt, die Sprache der Schweden, Dänen, Norweger und Isländer; 3) Westgermanisch, die Sprache der Westgermanen (s. d.). Viele Gelehrte nehmen einen nähern Zusammenhang des Ostgermanischen und Nordgermanischen an und teilen die G. S. in zwei Gruppen, indem sie den Namen Ostgermanisch auch auf die skandinav. Sprachen ausdehnen.

1) Die ostgermanischen Mundarten sind alle ausgestorben; man weiß aber, daß die Sprache der Gepiden und Vandalen dieselbe war wie die gotische (s. Gotische Sprache und Litteratur). Etwas abweichend war die burgundische Mundart.

2) Der nordgermanische Sprachzweig zerfiel in der Zeit von etwa 700 bis 1000 in drei Mundarten: altnorwegisch, altschwedisch, wozu auch die altgutnische Mundart zu rechnen ist, und altdänisch. Letztere beiden Mundarten stehen einander näher als ersterer, sodaß man sie als ostnordische Gruppe zusammenfaßt und der westnordischen gegenüberstellt. Diese erhielt durch die norweg. Besiedelung Islands um 900 einen räumlichen Zuwachs und zerfällt seitdem in eine norwegische und in eine isländische Mundart. Erst im 11. Jahrh. wurden die mundartlichen Abweichungen so groß, daß man von vier Sprachen statt Mundarten reden darf. Über die weitere Entwicklung dieser Sprachen s. Nordische Litteratur und Sprache, Schwedische Sprache, Dänische Sprache und Litteratur, Norwegische Sprache und Litteratur, Isländische Sprache und Litteratur.

3) Das Westgermanische zerfiel bereits zu Beginn unserer Zeitrechnung in zwei Gruppen: das Englische (Angelsächsische) und Friesische einerseits (Anglofriesisch) und die sämtlichen deutschen Mundarten (Hochdeutsch mit dem ausgestorbenen Langobardischen, Niederdeutsch mit Niederländisch) andererseits. Eine Mittelstellung nahm von Hause aus das Altsächsische (s. d.) ein, näherte sich jedoch in der Folgezeit immer mehr der deutschen Sprechweise, sodaß wir sie geradezu eine niederdeutsche Mundart nennen. Näheres über die Entwicklung der westgerman. Sprachen s. Angelsächsische Sprache und Litteratur, Englische Sprache, Niederdeutsch, Niederländische Sprache und Litteratur, Friesische Sprache und Litteratur, Deutsche Sprache und Deutsche Mundarten.

Die innere Geschichte der G. S. weist eine Reihe übereinstimmender Züge auf. Das Urgermanische besaß noch zum größten Teil die altindogerman. Mannigfaltigkeit der Flexion, wie sie aus der griech. Sprache bekannt ist. Zur Zeit der german. Völkerwanderung bewirkten durchgreifende lautliche Veränderungen der Wörter, insbesondere durch den Accent verursachte starke Verkürzungen ein lautliches Zusammenfallen vordem verschiedener Wortformen. Schon die Gotische Sprache (s. d.) hat die Flexion erheblich vereinfacht. Im Mittelalter führte dieser Prozeß und das Streben nach Ausgleichung von lautlichen Verschiedenheiten innerhalb derselben Formklasse (s. Analogiebildung) schließlich zu einer großen Umwälzung des ganzen Charakters der alten Sprache, und bereits vor Ausgang des Mittelalters herrschen überall die modernen Sprachen, deren Reste von Flexionsendungen den ursprünglichen Reichtum der verschiedenen Deklinations- und Konjugationsklassen nicht mehr ahnen lassen.

In lautlicher Hinsicht sind die durchgreifendsten Veränderungen der G. S. zur Zeit der german. Völkerwanderung vor sich gegangen oder wurzeln wenigstens in dieser Zeit. Der Grund hierfür liegt einerseits in der Sprachmischung mit den romanischen (bez. keltischen in Britannien, finnischen in Schweden und Norwegen) Volksgenossen, welche die german. Sprache ihrer neuen Herren annahmen. Zum andern aber bewirkte eine Umgestaltung der Aussprache die Mischung der einzelnen german. Stämme untereinander, deren jeder von Hause aus eine andere Aussprache mitbrachte. Im südl. Schweden mischten sich Dänen und Schweden, in Dänemark die Dänen mit den Resten der anglofries. Urbevölkerung (s. Westgermanen), in England Angeln, Sachsen und Jüten. Im großen und ganzen hat sich der Lautcharakter der G. S. in den letzten 700 Jahren nicht wesentlich verändert. Doch scheint es, daß in der Gegenwart der sprachliche Austausch innerhalb des Bereichs jeder einzelnen german. Schriftsprache, eine Folge der großartigen Verkehrserleichterungen, eine abermalige Umwälzung der ortsheimischen Aussprache anbahnt.

Größere Veränderungen weist der moderne Wortschatz auf. Man hatte sich in der Urzeit mit verhältnismäßig geringem Wortvorrat beholfen, wie noch heute der einfache Mann im gewöhnlichen Leben mit sehr wenig Wörtern auskommt. Die fortschreitende geistige Entwicklung der Völker und ihre erweiterten Bedürfnisse drängten einerseits zur Aufnahme einer großen Zahl von Lehnworten, so namentlich in den ersten Jahrhunderten n. Chr. und im 19. Jahrhundert (s. Fremdwörter), andererseits zur Prägung neuer Wortformen und zu einer Verfeinerung der Nuancen der Wortbedeutung. Auch die Ausgleichung des Wortschatzes der einzelnen Mundarten hat den Wortreichtum der german. Schriftsprachen erweitert, in Deutschland namentlich seit Luther. Insbesondere sind es aber die stetig wachsenden Bedürfnisse der modernen Schriftsprachen, welche auch der gesprochenen Sprache neue Worte, neue Wortbildungen und neue Nüancen der Wortbedeutung zuführen. Hinsichtlich seines Wortschatzes nimmt das Englische unter den G. S. eine Sonderstellung ein durch eine dermaßen massenhafte Übernahme franz. Wörter, daß