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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Großbritannien und Irland (Geschichte 1874-80)

11) Das Ministerium Disraeli und seine auswärtige Politik (1874-80). Am 20. Febr. 1874 war das neue Kabinett zu stande gekommen, in dem Graf Derby, der Sohn des frühern Ministerpräsidenten, das Auswärtige, Graf Carnarvon die Kolonien, Marquis von Salisbury Indien, Gathorne-Hardy das Kriegsministerium, Croß das Innere, Stafford-Northcote das Schatzkanzleramt verwaltete. Der Antritt Disraelis bezeichnete sofort einen Wandel in der auswärtigen Stellung des Königreichs. Schon unter Gladstone war Sir Bartle Frere nach Sansibar geschickt und hatte den Sultan Said Bargasch 5. Juni 1873 zu einem Vertrag genötigt, der den Sklavenhandel in Sansibar unterdrücken sollte. Der Febr. 1873 begonnene Krieg mit den Aschanti (s. Goldküste) wurde 1874 von Sir Garnet Wolseley durch die Zerstörung von Kumase beendet, 15. Febr. 1874 folgte der Friedensvertrag und eine einheitliche Neuordnung der dortigen Kolonien als Kolonie Goldküste. Disraeli eröffnete seine Kolonialpolitik durch die Besitzergreifung der Fidschi-Inseln 30. Sept. 1874, die auf den Wunsch der dortigen Häuptlinge erfolgte. Eine energischere Richtung wurde auch in der orient. Politik eingeschlagen. Der Prinz von Wales unternahm 11. Okt. eine offizielle, auf sechs Monate berechnete Reise nach Ostindien, zu der vom Parlament 112000 Pfd. St. bewilligt wurden, und auch der Ankauf der dem Chediv von Ägypten gehören den Sueskanalaktien für 4 Mill. Pfd. St., mit dem die Beherrschung des Sueskanals angebahnt wurde, geschah im Interesse dieser Politik. Zugleich wurden auf Wunsch des Chediv engl. Finanzmänner zur Ordnung der völlig zerrütteten Finanzen nach Ägypten gesandt. Viele Mühe machte es Disraeli, ein Gesetz durchzubringen, das die Königin zur Annahme des Titels einer Kaiserin von Indien ermächtigte. Dieser neue Titel, dessen Erwerb ein eigener besonderer Wunsch der Königin war, erfreute sich sonst einer sehr geringen Popularität, und erst nach dem Versprechen, daß die Königin ihn niemals in England selbst führen werde, erfolgte die Zustimmung und dadurch die endgültige Annahme 28. April 1876. Schon lange hatte sich die Reorganisationsbedürftigkeit des engl. Heers gezeigt. Am 4. Dez. 1875 hatte die Regierung einen Mobilisierungsplan veröffentlicht, dem das preuß. System zu Grunde lag, und der zwar einen Fortschritt gegenüber den frühern Zuständen bezeichnete, aber lange nicht weit genug ging, um das engl. Landheer in einem Festlandskrieg gefürchtet zu machen. Nach dem Schluß des Parlaments 15. Aug. 1876 ließ sich Disraeli als Lord Beaconsfield ins Oberhaus erheben und gab die Last der Unterhausführung an Northcote (s. Iddesleigh) ab.

Ganz in den Vordergrund trat nun die Politik gegenüber den beginnenden orient. Verwicklungen. (S. Osmanisches Reich.) England weigerte sich, den drei Kaisermächten beizutreten, welche die Türkei zwingen wollten, ihre Versprechungen gegenüber den in ihren Grenzen lebenden Christen zu erfüllen. Die Entsendung der engl. Mittelmeerflotte in die Besikabai 24. Mai 1876, angeblich zum Schutze der Christen, offenbar aber zum Schutz der Türkei gegen russ. Pläne, bestärkte die türk. Regierung in ihrer herausfordernden Haltung. Der serb. Krieg aber und vor allem die Nachrichten von türk. Greueln in Bulgarien verursachten eine starke öffentliche Erregung in England und im Sept. 1876 die Erklärung Derbys, daß die Türkei, auch im Fall einer russ. Kriegserklärung, auf keine Hilfe von England zu rechnen habe. Die von England zur Erhaltung des Friedens befürwortete Diplomatenkonferenz die im Dezember in Konstantinopel zusammentrat, ging 20. Jan. 1877 ohne Ergebnis auseinander, da die Pforte jede Beeinträchtigung ihrer Souveränität zurückwies. Ebenso lehnte sie das englisch-russische, von den übrigen Mächten unterzeichnete Protokoll vom 31. März 1877 ab und machte damit den Krieg unvermeidlich. (S. Russisch-Türkischer Krieg von 1877 und 1878.) Auf das lebhafteste beschäftigte die Orientangelegenheit das damals tagende Parlament. Erregte Debatten erhoben sich über die schwankende Haltung der Reichsregierung, die im ganzen der Türkei günstig scheine, aber weder gegen diese noch gegen Rußland mit der nötigen Entschiedenheit aufgetreten sei. Beaconsfield stellte dem gegenüber als Grundsatz hin, daß er festhalte an der Unabhängigkeit des Osmanischen Reichs. Die Erklärung der Neutralität Englands wurde dahin ergänzt, daß dieselbe nur bei einer Verletzung brit. Interessen durch Rußland verlassen werden solle; dazu zu rechnen sei die Bedrohung Konstantinopels, Ägyptens und des Sueskanals.

Neben der das Hauptinteresse beanspruchenden Orientalischen Frage kamen einige Gesetzesbeschlüsse von geringerer Bedeutung zur Verhandlung. Bemerkenswert war das drohende Auftreten der irischen Radikalen, deren Führung Parnell übernommen hatte. Sie bestrebten sich systematisch den Geschäftsgang im Unterhause zu stören und trugen durch diese Obstruktionspolitik die Schuld an der häufigen Unfruchtbarkeit der Parlamentsdebatten.

Der Fortgang des türk. Krieges, der Fall von Kars und Plevna Nov. und Dez. 1877 brachten eine völlige Veränderung der polit. Lage hervor. Der Sultan bat, nachdem die übrigen europ. Mächte abgelehnt hatten, 28. Dez. 1877 England um die Übernahme der Friedensvermittelung. Unter großer allgemeiner Aufregung fand 17. Jan. 1878, drei Wochen vor der gewöhnlichen Zeit, die Eröffnung des Parlaments statt. In der Thronrede war bereits auf die Möglichkeit großer Forderungen hingewiesen, und trotz ministerieller Widerrede waren die Anzeichen zu einer beginnenden Politik energischen Handelns bemerkbar. Es traten Spaltungen im Kabinett ein, Carnarvon trat aus dem Ministerium, und Derby ließ sich nur durch Zugeständnisse zum Bleiben bewegen. Der drohende Vormarsch der Russen gegen Konstantinopel bewirkte die Entsendung eines Teils der engl. Flotte dorthin und weitere kriegerische Rüstungen in England. Der Abschluß des Vorfriedens von San Stefano 3. März 1878 brachte einige Beruhigung, und mit Eifer wurden die Verhandlungen für einen europ. Kongreß betrieben. Der engl. Forderung, daß nicht nur einzelne Teile, sondern der ganze russ.-türk. Friedensvertrag der Billigung dieses Kongresses unterbreitet werden sollte, wurde von Rußland widersprochen, und aufs neue begannen kriegdrohende Rüstungen in England. Derby trat bei dieser neuen Bewegung aus dem Ministerium aus, und Salisbury übernahm an seiner Stelle das Auswärtige. Da aber keine der beiden Mächte ernstlich den Krieg wollte und Deutschland bei seinen friedensfreundlichen Bemühungen beharrte, so konnte 3. Juni 1878 beiden Häusern die Einladung zu einem Kongreß, der in Berlin stattfinden sollte, vorgelegt und die