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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Großbritannien und Irland (Geschichte 1892 bis zur Gegenwart)

Obgleich die 1892 bevorstehenden Neuwahlen zum Unterhaus schon das Hauptinteresse in Anspruch nahmen, trat die Regierung doch noch mit einer Reihe wichtiger Gesetzanträge vor das 9. Febr. eröffnete Parlament. An Stelle des 6. Okt. 1891 verstorbenen ersten Lords des Schatzes, Smith, war zum Führer der Regierungspartei im Unterhaus der Neffe Salisburys, Balfour, und an Stelle des im Dezember nach dem Tode seines Vaters als Herzog von Devonshire ins Oberhaus eingetretenen Hartington, Chamberlain zum Führer der Unionisten, gewählt worden. Am 18. Febr. brachte Balfour die irische Lokalverwaltungsbill vor das Unterhaus, welche die irische Lokalverwaltung möglichst der englischen anzunähern bestimmt war; 22. Febr. brachte der Minister für Landwirtschaft, Chaplin, eine Bill ein "zur Erleichterung des Erwerbs von bäuerlichen Kleinstellen" (Small Holding Act, s. Farm), die von beiden Parteien beifällig aufgenommen wurde; ihr Zweck war, durch die Bildung von Kleinstellen den ländlichen Arbeitern die Möglichkeit eigenen Besitzes zu erleichtern und damit den Zuzug derselben in die großen Städte zu vermindern. An demselben Tage wurde eine Verminderung des Schulgeldes in Irland vorgeschlagen. Einen liberalen Antrag (23. Febr.) zur Entstaatlichung der Walliser Kirche lehnte das Haus ab. Am 4. März bewilligte es die für die Vermessung einer Eisenbahnlinie von Mombas nach dem Victoria-Njansa von der Regierung geforderten 20000 Pfd. St. Abgelehnt wurde dagegen am 23. März mit großer Mehrheit die liberale Bill für die gesetzliche Einführung des Achtstundentags für Arbeiter; bei der Abstimmung standen sowohl Liberale wie Konservative auf beiden Seiten. Das gleiche Schicksal der Ablehnung hatte 25. März der ebenfalls liberale Antrag zur Diätenzahlung an die Parlamentsmitglieder; vor allem wurden gegen ihn die großen Kosten geltend gemacht und die Gefährdung der bisherigen Würde und Unabhängigkeit der brit. Volksvertreter. Bei der Budgetvorlage (11. April) konnte der Schatzkanzler Goschen wieder auf einen Überschuß von mehr als 1 Mill. Pfd. St. hinweisen, mußte aber für das nächste Finanzjahr einen beträchtlichen Ausfall in den Staatseinnahmen in Aussicht stellen. Am 27. April lehnte das Haus, aber nur mit 175 gegen 152 Stimmen, die zweite Lesung der Bill ab, die unverehelichten Frauen das Stimmrecht erteilten wollte; auch hierbei löste sich die Geschlossenheit der Parteien, selbst von den Ministern stimmte eine Minderzahl dafür. Am 13. Mai wurde durch einen Antrag Webster den des Schreibens unkundigen Wählern das Wahlrecht entzogen. Gegen die irische Lokalverwaltungsbill hatten die Liberalen und Iren wieder das Mittel der Obstruktion so anzuwenden gewußt, daß die Regierung sie, um die andern Vorlagen durchzubringen, 13. Juni fallen ließ. Am 29. Juni wurde das Parlament aufgelöst und der Beginn der Neuwahlen auf den 4. Juli festgesetzt.

Schon während der letzten Tagung des alten Parlaments war der Wahlkampf eröffnet worden. Er drehte sich besonders um die große Frage des Home-Rule für Irland und wurde auf beiden Seiten mit Erbitterung geführt. Gladstone selbst trat trotz seines Alters energisch in den Wahlkampf ein. Andererseits zogen besonders die zumeist bedrohten Bewohner des prot. Ulster in Nordirland in großen Massenversammlungen zu Belfast und an andern Orten gegen Home-Rule zu Felde. Als endlich die Wahlen im Juli stattfanden, gaben sie, wie längst erwartet, den Ausschlag gegen die Regierung. Den 262 Konservativen und 52 Unionisten standen 271 Gladstonianer, 4 Arbeitervertreter, 72 Anti-Parnelliten und 9 Parnelliten gegenüber; die sehr bunt zusammengewürfelte Mehrheit für Home-Rule, über die Gladstone verfügte, war demnach sehr schwach und das Schicksal des Kabinetts vollkommen in die Hand der Iren gelegt. Salisbury entschloß sich daher auf den Ausfall der Wahlen allein hin nicht zurückzutreten, sondern es auf ein formelles Mißtrauensvotum ankommen zu lassen. Am 4. Aug. wurde das Parlament eröffnet; es nahm nach längerm Redekampf 11. Aug. das Mißtrauensvotum gegen das Ministerium Salisbury an, worauf dieser von der Königin den Abschied erbat.

15) Gladstones viertes Ministerium. Bis zum 16. Aug. hatte Gladstone sein neues Ministerium beisammen: er selbst trat als erster Lord des Schatzes und Geheimsiegelbewahrer an die Spitze, Graf Kimberley wurde Staatssekretär für Indien, Asquith Staatssekretär für Inneres, Harcourt Schatzkanzler, John Morley Staatssekretär für Irland, Lord Spencer übernahm die Admiralität, Campbell-Bannerman das Kriegswesen, Lord Ripon die Kolonien, Shaw-Lefevre die öffentlichen Arbeiten, Mundella das Handelsamt, Arnold Morley wurde Generalpostmeister; wichtig war besonders die Übertragung des Auswärtigen an den Grafen von Rosebery und damit die Gewähr einer energischem auswärtigen Politik, als sie sonst Gladstones Anschauungen entsprach. Der radikale Labouchère war bei der Aufstellung der Ministerliste übergangen worden, wie er selbst behauptete auf persönlichen Wunsch der Königin, doch stellte dies Gladstone öffentlich in Abrede. Das Parlament wurde für den Rest des Jahres vertagt.

Während Gladstone dadurch Zeit gewann, die Einbringung seiner Home-Rule-Vorlage genügend vorzubereiten, zeigte sich in Irland sogleich die Veränderung der Regierungspolitik, indem in allen noch auf Grund des Gesetzes von 1887 "proklamierten" Bezirken der Normalzustand wiederhergestellt wurde. Außerdem wurde eine Kommission ernannt zur Untersuchung der in den letzten Jahren erfolgten Exmissionen, mit der Absicht, event. durch gesetzliche Vorschriften die Wiedereinsetzung der exmittierten Pächter zu bewirken. Da aber der Vorsitzende dieser Kommission den Vertretern der Grundeigentümer nicht die sonst übliche Freiheit im Zeugenverhör gestattete, zogen sich diese zurück, sodaß der Bericht, den die Kommission erstattete, und der den Wünschen der Home-Ruler entsprach, kaum als das Ergebnis einer erschöpfenden Untersuchung anzusehen ist. Auch für England schloß das Jahr 1892 unerfreulich ab; die Zahlen der Ausfuhr und Einfuhr sanken beträchtlich gegenüber denen des Vorjahres, und vor allem lag die Landwirtschaft schwer danieder, wovon eine 7. Dez. in der St. James-Halle zu London abgehaltene Nationale Konferenz brit. Landwirte deutlich Zeugnis ablegte, die als einziges Rettungsmittel Zollschutz und Einführung des Bimetallismus verlangte.

Tief eingreifend waren außerdem wieder die Arbeiterausstände. Die Bergarbeitergenossenschaft verfügte 29. Febr., daß die sämtlichen ihr angehörigen Arbeiter vom 12. März ab zunächst auf eine Woche feiern sollten, nachdem infolge des Rückgangs der Kohlenpreise die Gruben auch eine Lohn-^[folgende Seite]