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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Hessen (Großherzogtum; Geschichte)
mit Preußen 6. Sept. 1866 abgeschlossenen Frieden
außer der Zahlung von 3 Mill. Fl., der Übergabe
des gesamten PostWesens im ganzen Großherzog-
tum an Preußen und der Anerkennung der durch
den Nikolsburger Präliminarfrieden bestimmten
Neugestaltung Deutschlands die kaum erworbene
Landgrafschaft Hessen-Homburg sowie den Kreis
Biedenkopf, den Kreis Vöhl mit seinen Enklaven,
den nordwestl. Teil des Kreises Gießen, den Orts-
bezirk Rödelheim und den unter Hess. Souveränität
stehenden Teil des Ortsbezirks Niederursel an Preu-
ßen abtreten und in den Beitritt mit allen nördlich
vom Main gelegenen Gebietsteilen zum Norddeut-
schen Bunde willigen. Preußen trat dagegen behufs
Herstellung territorialer Einheit in der Provinz Ober-
hessen einige Gebietsteile, darunter das vormalige
kurhess.AmtNauheimund das vormalige nassauische
AmtReichelsheim,anH.ab. Am 7. April 1867 wurde
eine Militärkonvention, welche die Organisation
des Hess. Militärwesens derjenigen Preußens und
des Norddeutschen Bundes völlig gleichstellte und
die Hess. Division zu einem Teile des norddeutschen
Bundesheers machte, sowie ein auf Grund dieser
Militärkonvention abgeschlossenes Schutz-und Trutz-
bündnis vereinbart.
Aber der Umstand, daß die Provinzen Starken-
burg und Rheinhessen in ihrer Unabhängigkeit vom
Bunde frühere Zustände beibehielten, bereitete
Schwierigkeiten. Der Eintritt des ganzen Groß-
herzogtums in den Norddeutschen Bund, von der
Zweiten Kammer wiederholt beantragt, aber von
der Regierung bestritten und von der Ersten Kam-
mer verworfen, wurde zur Notwendigkeit. Am
15. Jan. 1868 wurde ein Telegraphenvertrag mit
Preußen abgeschlossen, vermöge dessen das Tele-
graphenwesen (mit Ausnahme des Staatsbahn-
telegraphen) allmählich vollständig an die Verwal-
tung Preußens bez. des Norddeutschen Bundes
überging; ein Postvertrag war bereits 1867 zu
stände gekommen. Im März 1870 schon schloß
H. mit dem Norddeutschen Bunde einen sog. Juris-
diktionsvertrag, betreffend wechselseitige Gewährung
der Rechtshilfe, ab. Im Okt. 1870 ließ der Groh-
herzog den Entwurf zu einer presbyterial-synodalen
Verfassung veröffentlichen, welcher demnächst der
Landessynode zur Beratung gegeben werden i'ollte.
Am 15. Nov. schloß H. zu Versailles einen Ver-
trag über den Beitritt auch seines südl. Teils zum
neuen Deutschen Bunde sowie eine vorläufige Ver-
einbarung bezüglich der Militärverhältnisse des
Großherzogtums, die 1871 infolge weiterer Ver-
handlungen zu eiuer definitiven wurde. Minister
von Dalwigk trat 6. April 1871 zurück, und nach
dem Übergangsministerium Lindelof trat Minister
Hofmann 13. Sept. 1872 an die spitze des Mini-
steriums. Vereinfachungen in der Staatsverwal-
tung wurden vorgenommen, so z. B. durch Auf-
hebung der Mittelkollegien für das Schulwesen,
Medizinalwesen, Bauwesen, für Forst- und Domä-
nenangelegenheiten und für Steuerfachen und deren
Einordnung als Abteilungen der Ministerien. Ein
neues Wahlgesetz wurde von den Kammern im Okt.
1872 angenommen. Die von der Vorsynode ange-
nommene evang. Kirchenverfassung wurde 27. Jan.
1874 durch großherzogl. Edikt verkündet. Ein Volks-
schulgesetz, das die Oberaufsicht des Staates und die
Leitung des gesamtenVolksschulwesens durchStaats-
behörden bestimmt, wurde nach langem Widerstand
der Ultramontanen 4. Febr. 1874 auch von der
Ersten Kammer angenommen, endlich wurden fünf
Kirchengesetzentwürfe, welche das Verhältnis der
Kirche zum Staat ordnen, trotz des Protestes des
Bischofs Ketteler im Herbst 1874 von den Kammern
genehmigt und 3. Mai 1875 von der Regierung
publiziert. Eine Landgemeinde-, eine Städte- und
eine Kreisordnung regelten die Verwaltung nach
dem Grundsatze der Selbstverwaltung. Der im Okt.
1875 eröffnete Landtag genehmigte im März 1876
den Ankauf der oberhess. Bahnen durch den Staat.
Im Mai 1876 trat Freiherr von Starck an die Stelle
des zum Präsidenten des Reichskanzleramtes er-
nannten Ministerpräsidenten Hofmann.
Am 13. Juni 1877 starb der Großherzog Lud-
wig 111.; da er kinderlos war, so folgte ihm fein
ältester Neffe Ludwig (geb. 12. Sept. 1837) als
Ludwig IV. (s. d.). Infolge der morganatischen
Vermählung des Großherzogs mit Frau von Kole-
mine trat Starck Ende Mai 1884 zurück und der
seitherige Staatsrat I. Finger an seine Stelle.
Die Negierungsprincipien blieben auch unter
dem neuen, bis dahin der nationalliberalen Partei
angehörigen Staatsminister die gleichen wie seither.
Auf kirchenpolit. Gebiete wurden entfprechend dem
Vorgange Preußens mit der Kurie Verhandlungen
eingeleitet, die zunächst dahin führten, daß letztere
den Tomkapitular Haffner 5. Juli 1886 zum Bischof
von Mainz ernannte. Die Gefetze vom 5. Juli
1887, betreffend die Vorbildung und Anstellung der
Geistlichen, und vom 7. Sept. 1889, betreffend die
Abänderung des Gefetzes über den Mißbrauch der
geistlichen Amtsgewalt, bestrebten sich, den Be-
schwerden der kath. Kirche über die Kirchengesetz-
gebung von 1875 möglichst abzuhelfen. Am wichtig-
sten waren die Arbeiten der Regierung und der
Landstände auf dem Gebiete des Steuerwesens und
zur Hebung der Landwirtschaft und des Verkehrs.
Durch die Gesetze vom 8. Juli 1884 wurde die all-
gemeine progressive Einkommensteuer neu geregelt,
eine gleichmäßige Besteuerung der Gewerbe in die
Wege geleitet und eine Kapitalrentensteuer neu ein-
geführt. Das Gesetz vom 30. Aug. 1884 fügte noch
eine Neuregelung der Erbfchafts- und Schenkungs-
steuer hinzu. Gesetze vom 28. Sept. 1887 regelten
die Einführung von Landeskulturgenossenschaften
und die Ausführung von sog. Feldbereinigungen.
Für den Verkehr sorgte ein Gesetz vom 29. Mai
1884, betreffend die Nebenbahnen, in dessen Aus-
führung in allen Landesteilen schon zahlreiche Li-
nien gebaut bez. im Bau begriffen sind. Daneben
wurden bedeutende Mittel bewilligt für Neubauten
an der Universität Gießen (Aula, Kliniken) und an
den Landesirrenanstalten, für ein großes Zellen-
gefängnis und für feste Straßenbrücken über den
Rhein bei Mainz, über den Main bei Offenbach und
Kostheim. Nach dem Tode des Großherzogs Lud-
wig IV. (13. März 1892) übernahm dessen Sohn
Ernst Ludwig die Regierung des Landes. - Bei den
Reichstagswahlen vom 21. Febr. 1887 wurden in H.
7 Nationalliberale, 1 Deutschfreisinniger und 1 Cen-
trumskandidat gewählt; bei den Wahlen vom
20. Febr. 1890: 3 Nationalliberale, 2 Deutschfrei-
sinnige, 2 Socialdemokraten und 2 Antisemiten; bei
den Wahlen vom 15. Juni 1893: 3 Nationalliberale,
3 Antisemiten, 2 Socialdemokraten und 1 Anhänger
der freisinnigen Volkspartei.
Vgl. von Türckheim, Iliätoirs 86N6a1oFi<iu6 äs
1a maiLou äs Ü6886 (2 Bde., Straßb. 1819-20);
Rommel, Geschichte von H. (10 Bde., Gotha und