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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Lutheraner

reformation genannt. Als diese den Namen L. als Ehrennamen annehmen wollten, wehrte sich Luther dagegen; doch wurde im Streite mit den reform. Kirchen der Schweiz, die sich an Calvin anschlossen, und im Gegensatze zu der Schule Melanchthons der Name Lutherische Kirche seit Anfang des 17. Jahrh. zur stehenden Bezeichnung für die aus der deutschen Reformation hervorgegangenen Kirchen, die in der "ungeänderten" Augsburgischen Konfession und in Luthers Schmalkaldischen Artikeln die reine evang. Lehre ausgedrückt fanden. Im Augsburger (1555) und Westfälischen Frieden (1648) wurden die L. unter der Benennung Evangelische Augsburgischen Bekenntnisses oder Augsburgische Konfessionsverwandte im Deutschen Reiche öffentlich anerkannt. Die ungeänderte Augsburgische Konfession gewann dadurch staatsrechtliche Bedeutung, während man innerhalb der luth. Kirchen mit der Verpflichtung auf sie und die übrigen luth. Bekenntnisschriften den theol. Zweck verfolgte, die Melanchthonsche Schule auszuschließen. Demselben diente in den luth. Hauptlandeskirchen hauptsächlich die Konkordienformel (s. d.). Der Gegensatz beider Richtungen geht in seinen Anfängen noch auf Luthers Lebzeiten zurück und bewegte sich um die Lehren vom Abendmahl und von der menschlichen Willensfreiheit, worin die Anhänger Luthers gegenüber Melanchthons Milderungen die ursprüngliche Strenge des erstern aufrecht hielten. Bis 1560 durch Melanchthons Ansehen niedergehalten, gewannen diese strengen L. zuerst 1558 durch die Eröffnung der Universität Jena einen festen theol. Mittelpunkt, von wo aus ihre Lehre nach und nach in den meisten Landeskirchen Eingang fand. Aus der verdrängten Melanchthonschen Richtung entwickelten sich deutschreformierte Landeskirchen in Hessen, Nassau, Anhalt und der Pfalz. Seitdem war die luth. Kirche zum äußern Abschlusse gekommen. Der Lehrbegriff der Konkordienformel liegt der luth. Dogmatik des ganzen 17. Jahrh. ohne Ausnahme zu Grunde. Durch eine religiöse Bewegung, den Pietismus (s. Pietisten), in ihrer scholastischen Starrheit zuerst erschüttert, verfiel diese Orthodoxie mit dem Aufklärungszeitalter der innern Auflösung, die von der neuern Philosophie trotz zeitweiliger Friedensversuche nur noch vollständiger durchgeführt wurde. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrh. zählte die luth. Orthodoxie fast gar keine Vertreter mehr. Auch als unter dem geistigen Einflusse der Romantik und der Befreiungskriege eine innigere Frömmigkeit sich Geltung verschaffte, wollte man von den konfessionellen Gegensätzen unter den Evangelischen selbst noch nichts hören.

Aber bei der Begründung der evang. Union (s. d.) in Preußen (1817) zeigte sich, daß die geistige Strömung der Restaurationszeit diesen Bestrebungen nicht günstig sei. Eine bereits tot geglaubte luth. Orthodoxie erstand von neuem und verdammte die Stiftung der Union als einen Versuch zur Ausrottung des luth. Bekenntnisses. Als die Staatsgewalt ihre Maßregeln aufrecht erhielt, schritt diese Partei als Altlutheraner zur Separation. Der Professor der Theologie Scheibel in Breslau stiftete 1830 eine separierte Gemeinde, und eine Reihe schles. Prediger, wie Berger in Herrmannsdorf, Wehrhahn in Kunitz und Kellner in Hönigern, folgten seinem Beispiel. An letzterm Orte schritt das Militär wider die Altlutheraner ein (1834); die renitenten Prediger wurden verhaftet und abgesetzt. Die Maßregeln des Staates vermehrten jedoch nur den separatistischen Eifer der Partei. Es entstanden altluth. Gemeinden in Erfurt, Naumburg, Berlin und anderwärts. Als der Staat die Gesetze gegen Konventikel zur Anwendung brachte, wanderten viele nach Nordamerika und Australien ans (1837).

Der auf einer Generalsynode zu Breslau (1841) unter der Leitung eines Oberkirchenkollegiums konstituierten "wahren luth. Kirche" (bis 1847 auf 27 Gemeinden steigend) verlieh endlich die königl. Generalkonzession vom 23. Juli 1845 Korporationsrechte und öffentliche Anerkennung. Als aber das Oberkirchenkollegium unter Leitung des Professors Huschke (s. d.) kraft göttlichen Rechts Gehorsam erheischte, kam es auf der Synode von 1860 zur Spaltung; fast ein Drittel der Pastoren sagte sich los und gründete die von Breslau unabhängige Immanuelsynode. Aber auch innerhalb der unierten Landeskirche hatte die streng luth. Richtung seit den vierziger Jahren allmählich Boden gewonnen. Seit 1848 wurde die Forderung laut, die Union mit den Reformierten zu beseitigen und wirklich luth. Konsistorien herzustellen. In eigenen Vereinen und Konferenzen betrieb man den Umsturz der Union und forderte schließlich auf dem Kirchentage in Wittenberg (10. Sept. 1851) die gesetzliche Vertretung der luth. Kirche in der obersten Kirchenbehörde. Auch diese Forderung wurde durchgesetzt, indem durch königl. Kabinettsorder vom 6. März 1852 der Oberkirchenrat und die Konsistorien in Mitglieder des luth. und des reform. Bekenntnisses geteilt wurden. Die Union schien zu Grabe getragen, als eine neue Kabinettsorder vom 12. Juli 1853 die Absicht, ihren Bestand zu stören, in Abrede stellte. Aber die zugelassenen Abweichungen vom Unionsritus wurden überall, wo die "evang. Prediger" sich wieder als "luth. Pastoren" zu fühlen begannen, zur Regel. Nach dem Regierungsantritt König Wilhelms I. wurde unter dem Minister Mühler der Widerstand der sog. konservativen Unionsmänner von Jahr zu Jahr schwächer, während die liberale Richtung nur an wenigen Orten beim prot. Volke kräftige Unterstützung fand.

Auch außerhalb Preußens erhob die luth.-orthodoxe Partei von neuem ihr Haupt und schuf sich auf den jährlichen Pfingstkonferenzen zu Leipzig eine Art von Vertretung für ganz Deutschland. In Bayern besaß die Partei schon seit den vierziger Jahren die Herrschaft; in Mecklenburg, Hannover und Sachsen gelangte sie zum Kirchenregiment und hielt die andern Richtungen nieder. In Hessen-Darmstadt, Thüringen und anderwärts bildeten sich wenigstens luth. Konferenzen. In Kurhessen suchten Hassenpflug und Vilmar die ursprünglich reform. Landeskirche zu lutheranisieren.

Die Vereinigung von Hannover und Schleswig-Holstein mit Preußen (1860) brachte alte rein luth. Landeskirchen unter die Hoheit der preuß. Krone. Da verlangten die L. in der Landeskirche Auflösung der Union, in den neuerworbenen Provinzen die Errichtung einer luth. Oberkirchenbehörde. Erreicht wurde wenigstens die Aufrechthaltung des hannoverischen und die Neuerrichtung des schleswig-holsteinischen luth. Konsistoriums. Dieselben wurden dem Berliner Oberkirchenrat nicht unterstellt. Als Organ des streitbaren Luthertums wurde im Okt. 1868 die von Professor Luthardt in Leipzig herausgegebene "Allgemeine evang.-luth. Kirchenzeitung" gegründet. In den alten preuß. Provinzen suchte der Oberkirchenrat zunächst, wenn auch von den über-^[folgende Seite]