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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Rußland (Geschichte 1855-81)

erleichtern, wurden die Kreditinstitute, welche Güter gegen Hypotheken beliehen, geschlossen und bei der Ablösung des Bauernlandes die hypothezierte Bankschuld bei Auszahlung des Staatsvorschusses innebehalten. Die Aufhebung der Leibeigenschaft kam zu unvorbereitet. Durch die den Gutsherren auferlegten großen Opfer, den Mangel an ausdauernder Arbeitskraft, die Gewöhnung, alles von der Regierung zu erwarten, den Ausschluß jedes Einflusses der Gutsherren auf die Bauern, die feindliche Stellung, welche infolgedessen die Bauern den Gutsherren gegenüber einnahmen, wurde der größte Teil des Adels völlig ruiniert. Aber auch die ökonomische Lage der Bauern blieb eine sehr gedrückte. Trotz wiederholter Ermäßigung der Loskaufszahlungen, mehrfachen Erlasses von Steuerrückständen, besserte sich die Lage der Bauern nicht. - Vgl. H. von Samsom, Vom Lande (Dorpat 1883) und die dort angeführten Quellen.

Ein anderes Bild zeigen die liv-, kur-, esthländischen Agrarverhältnisse. In Livland hatte der Adel schon im Anfang des Jahrhunderts mit einer Besserung der Lage der Leibeigenen (Bauernverordnung von 1804) begonnen, und durch die Bauernverordnungen von 1816, 1817 und 1819 war die Aufhebung der Leibeigenschaft in allen drei Provinzen erfolgt. Der Bauer war persönlich frei und unter der Polizei und Aufsicht des Gutsherrn stehend zur Leistung des Gehorsams verpflichtet. 1849 wurde in Livland durch den Landmarschall von Foelckersahm der Übergang zur Geldpacht und der Erwerb des Grundeigentums angebahnt, gleichzeitig war vom Adel ein System von Gemeindeschulen und der Schulzwang eingeführt. Jeder Bauernhof bildet hier eine geschlossene wirtschaftliche Einheit, so groß, daß derselbe einen geordneten Wirtschaftsbetrieb lohnt. Seit diesem Jahre begann in Livland der Bauernlandverkauf in großem steigendem Maßstabe. Die Schwesterprovinzen folgten. - Vgl. Materialien zur Kenntnis der livländ. Bauernverhältnisse (Riga 1883).

Im Königreich Polen versuchten der Großfürst Konstantin und Marquis Wielopolski vergebens ein versöhnliches System. Infolge der neuen Rekrutenaushebung brach im Jan. 1863 ein Aufstand aus, welcher auch die westruss. (vormals poln.) Gouvernements zu ergreifen drohte; aber binnen Jahresfrist ward derselbe wieder unterdrückt. Die russ. Regierung griff nun zu strengen Repressivmaßregeln und arbeitete, wie zur Zeit des Kaisers Nikolaus, entschieden auf die Russifizierung dieser Provinzen hin. Im Großfürstentum Finland hatte Alexander II. bereits April 1861 die Wiederherstellung der landständischen Verfassung, die seit der russ. Eroberung außer Wirksamkeit gekommen war, zugesagt. Der erste Landtag tagte von Sept. 1863 bis April 1864. Um den letzten sprachlichen Zusammenhang zwischen Finland und seinem vormaligen Mutterlande Schweden zu lösen, wurde neben der bisher ausschließlich berechtigten schwed. Amtssprache Febr. 1864 das Finnische gleichfalls als offizielle Sprache anerkannt, und von 1872 an sollte die Kenntnis derselben obligatorisch für alle Beamte und Lehrer sein. Auch im eigentlichen R. war das öffentliche Leben aus der frühern Erstarrung allmählich in Fluß geraten. Ein ungewohnter Geist des Liberalismus und der Opposition zeigte sich in der Presse und an den Universitäten. Als das Unterrichtsministerium, dadurch beunruhigt, ein strengeres Reglement bei den Universitäten durchzuführen suchte (Herbst 1861), kam es in Petersburg und Moskau zu wiederholten Studententumulten. Auch die Adelskorporationen der Gouvernements, welche Jan. bis März 1862 zusammentraten, begannen eine bisher unerhörte Sprache zu führen. Dagegen drängte eine ultraruss. Partei, deren hervorragendster Publizist Katkow (s. d.) war, zu den strengsten Maßregeln gegen Polen und wollte alles Nichtrussische beseitigen. Alexander II. verkündigte in einem Reskript vom 10. Febr. 1865, daß das Recht der Initiative bei allen Reformen ausschließlich ihm selbst zustehe und mit der autokratischen Gewalt unzertrennlich verbunden sei. Nach dieser Zurückweisung mußten alle polit. Forderungen verstummen. Dagegen ging Alexander II. auf dem betretenen Wege langsam vorwärts. Durch die Gerichtsordnung vom 2. Dez. 1864 wurde das Justizwesen umgestaltet und reformiert. Ein Ukas vom 21. Jan. 1864 befahl die Einführung von Kreis- und Gouvernementsvertretungen, bestehend aus Grundbesitzern, Stadtbürgern und Bauern, die sich vorzugsweise mit den ökonomischen Interessen und Bedürfnissen ihres Bezirks beschäftigen sollten. Im Sept. und Okt. 1865 wurden die Kreis- und Gouvernementsrepräsentationen zuerst einberufen. Inzwischen wurden die Bauernemancipation und das Ablösungsverfahren vollends durchgeführt, so daß März 1871 die letzten Spuren der Leibeigenschaft verschwanden. Von hervorragender Wichtigkeit war auch der vom Kaiser 1. Juni 1869 bestätigte Beschluß des Reichsrates, welcher die Erblichkeit des geistlichen Standes aufhob und den Söhnen der Weltgeistlichkeit freistellte, sich dem Staatsdienste oder der bürgerlichen Thätigkeit zuzuwenden. Im Kaukasus trat der Fürst (Dadian) von Mingrelien 1867 seine bisherigen Souveränitätsrechte gegen 1 Mill. Rubel Entschädigung an den russ. Kaiser ab, und die Sklaverei wurde daselbst, zuletzt im Distrikt Suchum-Kale 1870, völlig abgeschafft.

Neben der Ausdehnung des Eisenbahnnetzes und der Aufhebung der Leibeigenschaft war die dritte Maßregel, die wesentlich zur Stärkung der Reichsmacht beitrug, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, welche in einem kaiserl. Manifest vom 13. Jan. 1874 als Gesetz verkündigt wurde. Damit waren die verschiedenen, auf eine neue Militärorganisation hinzielenden Verordnungen (von 1868, 1870 u. s. w.) und Reformen zum Abschluß gebracht. Im Gegensatz zu diesen Reformen, die sich die Zustände des Westens zum Muster nahmen, aber freilich vielfach auch die fremden Formen ohne weiteres auf die ganz anders gearteten russ. Verhältnisse übertrugen, verharrte eine starke altruss. Partei. Sie hatte bestanden, seit R. unter Peter I. ein europ. Staat geworden war. Neue Kraft hatte sie unter Kaiser Nikolaus aus dem Ideengehalt gewonnen, den das damals entstandene Slawophilentum ihr zuführte. Unter Alexander II. war diese emporkommende nationalruss. Strömung zwar zurückgedrängt, aber nicht unterdrückt worden. Der poln. Aufstand, von gewandten Agitatoren hierzu benutzt, fachte sodann das Nationalitätsgefühl zum Fanatismus an. Das Bestreben, das ganze Staatsleben auf nationalruss. Boden zu stellen, nahm zunächst die Richtung auf Unterdrückung aller nichtruss. Elemente im Reiche. Nach Niederwerfung des poln. Aufstandes forderte die öffentliche Meinung die völlige Verschmelzung Polens mit R. Diese Politik fand zum Teil auch die Zustimmung der Regierung, die dadurch einer Wiederholung des Aufstandes vorzu-^[folgende Seite]