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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Rußland (Geschichte 1881 bis zur Gegenwart)

gegen diese Wahl zu bewegen, auf die unbedingte Verneinung des bestehenden Zustandes in Bulgarien. Am 23. Aug. 1887 fuhr Alexander III. mit seiner ganzen Familie nach Kopenhagen. Hier wurden dem Zaren Aktenstücke vorgelegt, die ihm beweisen sollten, daß Fürst Bismarck im Widerspruch zu seinen offiziellen Erklärungen insgeheim eine russenfeindliche Politik in Bulgarien treibe. Als jedoch Fürst Bismarck den Zaren, der sich 18. Nov. auf der Durchreise nach Petersburg einige Stunden in Berlin aufhielt, in einer Audienz nachgewiesen hatte, daß jene Aktenstücke gefälscht seien, war wenigstens ein erträgliches Verhältnis zwischen R. und Deutschland wiederhergestellt. Gleichwohl schob Alexander III. die Erwiderung des Besuchs, den ihm Kaiser Wilhelm II. bald nach seinem Regierungsantritt in den Tagen des 19. bis 24. Juli 1888 in Petersburg gemacht hatte, bis zum Okt. 1889 hinaus. Der an diesem Tage erfolgte Gegenbesuch bewirkte jedoch keine Änderung in der polit. Stellung R.s. Die glänzende Aufnahme des Kaisers Wilhelm durch den Sultan bei seinem Besuche in Konstantinopel (2. bis 6. Nov. 1889), die hieraus erfolgte Stärkung des Selbstgefühls der Türkei auch R. gegenüber und das intimere Verhältnis, in das die Pforte, ohne daß polit. Abmachungen getroffen wären, zu der Politik der Dreibundmächte trat, wurden von R. als eine Niederlage empfunden. Da auch England, ohnehin R.s Rival in Asien, sich immer entschiedener dem Dreibunde annäherte, so blieb R. als einziger Verbündeter im Kriegsfalle Frankreich übrig.

R. setzte daher die niemals unterbrochenen Rüstungen mit Eifer fort. schon zu Anfang des J. 1888 hatte es an seiner Westgrenze 8½ Armeekorps aufgestellt, während Deutschland und Österreich zusammen nur 5½ Armeekorps an ihren Ostgrenzen stehen hatten. Diese starke russ. Truppenmacht wurde im Laufe des J. 1888 noch um 2 Infanteriedivisionen und 1 Kavalleriedivision und 1889 wieder um je eine Division beider Waffengattungen verstärkt; im April 1890 wurde auch die Finanzgrenzwache militärisch organisiert und vermehrt. Zugleich mit dieser durch die Schwierigkeiten einer russ. Mobilmachung bedingten Truppenanhäufung an den Westgrenzen, der 1889 in Angriff genommenen Vermehrung der strategischen Bahnen im Westen sowie des Fahrparks der Weichselbahn und der südöstl. Bahnen, erfolgten Maßregeln zur Verstärkung der gesamten russ. Armee. Im Juli 1888 wurde die Gesamtdienstzeit im Heer von 15 auf 18 Jahre erhöht, während gleichzeitig das jährliche Rekrutenkontingent eine Erhöhung um 15000 Mann erfuhr. Ein Ukas vom 13. Nov. vermehrte sodann die Zahl der 15 bestehenden Linienkorps um drei neue, die aus den überschüssigen Divisionen der alten Korps gebildet werden sollten. Dazu kam 1889 die Umwandlung der 20 Schützenbataillone im europ. R. in ebenso viele Regimenter zu 2 Bataillonen, die Bildung einer zweiten kombinierten Kosakendivision und die Erhöhung der Feldartilleriebrigaden von 6 auf 8 Batterien mit je 8 Geschützen.

Zu einem wirklichen Kriege mit Deutschland kam es zwar nicht, wohl aber zu einem Zollkriege. Nachdem 1890 die russ. Schutzzölle um 20 Proz. erhöht worden waren, begannen Febr. 1893 Verhandlungen mit Deutschland über einen Handelsvertrag. Als der Abschluß sich verzögerte, suchte R. 20. Juli durch Zollzuschlag von 50 Proz. auf deutsche Importartikel die deutsche Regierung zum raschern Abschluß zu drängen. Die deutscherseits 25. Juli hiergegen ergriffenen Maßnahmen schienen jedoch bald eine besonnene Stimmung in Petersburg hervorzurufen, und bald darauf begannen wiederum Verhandlungen, die 15. Jan. 1894 zum Abschluß führten. Der Reichstag genehmigte den Vertrag 16. März; 20. März wurde derselbe im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Den beiderseitigen Unterthanen wird im Handels- und Gewerbebetriebe das Vermögensrecht und gegenüber der Justiz und Verwaltung eine gleichmäßige Behandlung mit den eigenen Reichsangehörigen gewährleistet. Der gegenseitige Verkehr soll durch keinerlei Einfuhr- oder Ausfuhrverbote gehemmt werden. Eine Ausnahme ist nur für Gegenstände des Staatsmonopols zulässig. Russ. und deutsche Boden- und Gewerbeerzeugnisse genießen bei Verbrauch, Lagerung, Wiederaus- und Durchfuhr die Meistbegünstigung. Der Vertrag hat zunächst 10 Jahre Gültigkeit. Die Kündigungsfrist nach dieser Zeit ist einjährig. In R.fand der Vertrag allgemeinen Beifall.

Trotz der ablehnenden Haltung R.s befestigte sich die Regierung des Prinzen Ferdinand in Bulgarien unter der energischen Leitung Stambulows, und die wiederholten, von den russ. Panslawisten angezettelten Verschwörungen ließen die Sympathien für R. mehr und mehr schwinden, wenn es andererseits auch noch immer eine starke russenfreundliche Partei im Lande gab. Diese erlangte sogar einen großen Erfolg, indem sie Mai 1894 die Entlassung Stambulows durchsetzte, der hauptsächlich einer Annäherung mit R. widerstrebte. Seitdem wird von bulgar. Seite alles versucht, um eine Versöhnung mit R. herbeizuführen. In Serbien gewann R., als nach der Abdankung König Milans (6. März 1889) die russisch gesinnten Radikalen die herrschende Partei wurden, die Stellung, die es in Bulgarien vergebens erstrebte. Der Einfluß der geschiedenen Königin Natalie und die Proklamation der gegen Österreich und die Türkei gerichteten großserb. Ideen durch den Metropoliten Michael bei der Gedenkfeier der Schlacht auf dem Amselfelde (27. Juni) vollendeten diese Schwenkung der serb. Politik. Die Krönungsfeier des jungen Königs Alexander, zu der kein diplomat. Vertreter geladen war und nur der russ. Gesandte Persiani auf Befehl des Zaren erschien, sowie der Toast des Königs auf den Zaren brachten das Vasallenverhältnis Serbiens zu R. zum Ausdruck. Im Juli 1891 besuchte Alexander den Zaren in Petersburg; doch lockerten sich später die Beziehungen. (S. Serbien.) Nikola von Montenegro, der "einzige aufrichtige Freund" R.s, fiel 1892 beim Zaren in Ungnade, weil er eine russ. Anleihe in "ein Gnadengeschenk des Kaisers verwandeln" wollte. Nun wurde der Versuch gemacht, Rumänien zu gewinnen; doch neigte der König Karl mehr zum Anschluß an den Dreibund.

In seiner asiat. Politik machte R., dem hier nur England gegenüberstand, langsam, aber beständig Fortschritte. Die Einverleibung des Gebietes der Teke-Turkmenen 24. Mai 1881 bahnte R. den Weg nach Merw; 11. Febr. 1884 unterwarfen sich die Turkmenenstämme von Merw. Das unterworfene Gebiet umfaßte 40000 Zelte und 280000 E. Etwa 1500 Familien verließen das Land und wandten sich nach Afghanistan. Dort arbeitete eine russ.-engl. Grenzregulierungskommission, um eine feste Grenze zwischen Afghanistan und dem russ. Gebiet zu ver-^[folgende Seite]