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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Spanien (Geschichte 1875 bis zur Gegenwart)

Vorlage bezüglich des allgemeinen Wahlrechts wurde 26. Jan. von der Kammer, 26. Mai 1890 vom Senat angenommen; doch war der Anspruch an das Wahlrecht mit dem 25. Lebensjahr an gewisse einschränkende Bedingungen geknüpft.

Am 5. Juli wurde ein neues Ministerium gebildet, in dem Canovas del Castillo den Vorsitz übernahm, was in mehrern Städten Unruhen hervorrief. Anfang 1892 fanden anarchistische Kundgebungen in Xeres und Barcelona und eine socialistische Bewegung in Madrid statt. Im Juni verbreitete sich die anarchistische Bewegung über ganz Catalonien; infolge der Haltung von 87 000 streikenden Arbeitern wurde der Belagerungszustand über Barcelona verhängt, jedoch ohne wesentlichen Erfolg. Ende Juni trat gar ein Ausstand der 3000 Telegraphisten des Landes ein. Bedenkliche Unruhen brachen dann im Juli in Madrid aus, wo es zu einem regelrechten Feuergefecht kam, Ende Juli ward in Santander der Belagerungszustand verkündigt, und Anfang August mußte viel Militär in die Provinzen Alicante und Murcia geschickt werden. Gleichwohl ward wie in Italien, so auch in S. seit Anfang August das Columbus-Fest mit besonderm Glanze gefeiert, besonders in Huelva. Im Dez. 1892 trat Canovas vom Präsidium zurück und überließ es an Sagasta.

Die Wahlen im März 1893 erbrachten für die Zweite Kammer zwar eine ministerielle Mehrheit von 298, doch war die Zahl der republikanischen Abgeordneten auf das Doppelte (auf 50) gestiegen; der Senat setzte sich aus 199 Ministeriellen und 138 Oppositionellen zusammen. Die Unzufriedenheit richtete sich besonders gegen die Reform der Finanzen und das Heeresreformgesetz; die Anarchisten schürten, so daß es auch 1893 zu ernsten Unruhen kam. Am 24. Sept. wurde dem Marschall Martinez Campos bei einer Truppenrevue in Barcelona eine Bombe vor die Füße geworfen, die ihn und andere verletzte; 7. Nov. wurden in derselben Stadt bei Einweihung des Theatro Liceo zwei Bomben in den Orchesterraum geworfen, wobei eine große Anzahl von Personen ums Leben kam. Der Streit um Melilla, dessen Gebiet seit 1859 durch Vertrag mit Marokko erweitert worden war, ließ alsdann vorübergehend die innern Vorgänge zurücktreten; infolge der Räubereien und Angriffe der Riffbewohner kam es Ende Oktober zu heftigen Kämpfen, in denen der span. Oberbefehlshaber General Margallo fiel. Dies entflammte die Volksleidenschaft in ganz S.; indessen brachte der Ende November als Oberbefehlshaber entsandte Martinez Campos die Sache ins Gleiche. Der Sultan Mulei Hassan versprach Genugthuung und ließ die Häuptlinge der Riffkabylen an Campos ausliefern (März 1894). Auf Cuba entstanden in demselben Jahr infolge der entschädigungslosen Aufhebung der Sklaverei (1880), der Einführung der span. Verfassung (1884) und neuer Steuern Unruhen; doch unterwarf der Gouverneur die Aufständischen. Die Absicht des Finanzministers, die seither in Bezug auf Steuern bevorrechteten Landesteile zu belasten, rief eine große Bewegung in den bask. Provinzen und in Navarra hervor, so daß die Regierung im Febr. 1894 ein Abkommen treffen mußte. Am 8. März 1894 bat das Ministerium Sagasta um Entlassung, worauf es 12. März unter Veränderung der Hälfte seiner Mitglieder wieder eingesetzt wurde. In den Cortes (April bis Juli) spielte die Erörterung wirtschaftlicher Fragen, insbesondere der Handelsverträge, eine große Rolle; im Juli einigten sich beide Kammern über ein Gesetz gegen die Anarchisten. Das Verlangen Cubas nach Selbstverwaltung zögerte die Regierung zu erfüllen, was einen Aufstand hervorrief, den Martinez Campos Anfang 1895 zu dämpfen unternahm. Im März 1895 trat Sagasta zurück, und Canovas, der Führer der Konservativen, bildete ein neues Kabinett.

Die Schwierigkeiten der innern Politik wurden zunächst durch den Aufstand auf Cuba (s. d.) in den Hintergrund gedrängt. Aber wiewohl Martinez Campos der Insurrektion durch Waffengewalt und das Versprechen, administrative Reformen zu gewähren, ein Ende zu machen suchte, breitete sich der Aufstand mehr und mehr aus. Dieser Mißerfolg veranlaßte im Jan. 1896 die Abberufung Martinez Campos'. Sein Nachfolger war General Weyler, der jedoch, trotzdem er mit äußerster Härte verfuhr, den Aufstand auch nicht zu unterdrücken vermochte. Die Cubaner fanden in Amerika viel Sympathie und erhielten aus den Vereinigten Staaten reiche Unterstützungen, die auch dann noch nicht aufhörten, als Präsident Cleveland auf freundschaftliche Vorstellungen S.s jede Verletzung der Neutralität verbot (13. Juni 1895). Die Beziehungen zwischen Nordamerika und S. wurden noch gespannter, als im März 1896 Repräsentantenhaus und Senat in Washington unter heftigen Angriffen gegen Weyler, der einige amerik. Flibustier zum Tode verurteilt hatte, über die Anerkennung der Aufständischen auf Cuba als kriegführende Partei verhandelten und 6. April die Regierung aufforderten, für die Selbständigkeit Cubas einzutreten. In mehrern größern Städten kam es infolgedessen zu Kundgebungen gegen die Vereinigten Staaten.

Das J. 1895 über hatte das konservative Kabinett mit einer liberalen Majorität regiert, im Febr. 1896 endlich löste es die Cortes auf, und 12. April wurde die Kammer, am 26. der Senat neu gewählt. Das Resultat war ein großer Sieg der Regierung, doch wurden sogleich heftige Proteste der Opposition wegen unerhörter Beeinflussung durch die Regierung und der Fälschung der Madrider Wählerlisten laut. Eine der wichtigsten Aufgaben der Cortes war die Regelung der Finanzen, die durch die großen Kosten des cuban. Feldzugs in Unordnung geraten waren. Auch wurden im Dez. 1895 in der Presse schwere Vorwürfe gegen die Madrider Stadtverwaltung wegen Veruntreuungen erhoben, um die auch der Justizminister und der Bautenminister gewußt haben sollten. Es kam zu Straßendemonstrationen gegen die Gemeindeverwaltung und die Regierung; die beiden Minister legten ihre Ämter nieder, und eine gerichtliche Untersuchung wurde eingeleitet. Sodann regten sich in Barcelona wieder die Anarchisten, wo durch ein Bombenattentat 7. Juni 1896 eine ganze Anzahl von Menschen getötet und noch mehr verwundet wurden, was der Regierung zur Verhängung des Belagerungszustandes über die Stadt und zu einem neuen, noch schärfern Anarchistengesetz Veranlassung gab. Ferner wurde im August eine weitverzweigte Verschwörung auf den Philippinen (s. d.) entdeckt, die in S. selbst Teilnehmer zu haben schien und zu offener Empörung führte. Diesen Schwierigkeiten gegenüber zeigten sich auch die regierungsfeindlichen Parteien in den Cortes bereit, durch Geldbewilligungen die Regierung zu unterstützen, die Integrität des span. Gebietes zu wahren. Die brutale Behandlung der Anarchisten in den Gefängnissen