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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Spiritismus

Die hervorragendsten "wissenschaftlichen" Verteidiger waren in Amerika der Philadelphiaer Chemiker Hare und der Neuyorker Richter Edmonds, besondern Rufes erfreute sich auf Grund seiner spiritistischen Leistungen Hume oder Home. Es bildeten sich alsbald auch in Frankreich und Deutschland Gesellschaften zur Auskundschaft des Jenseits. Lebensbeschreibungen längst verstorbener Personen wurden nach deren eigenen Diktaten in den Druck gegeben, ihre Porträte aus dem Jenseits gezeichnet, dabei auch Gedichte und musikalische Kompositionen seliger und unseliger Geister dem Publikum zur Beurteilung vorgelegt. Als litterar. Ausgeburten dieser Sache sind bemerkenswert: Cahagnet, Der Verkehr mit den Verstorbenen auf magnetischem Wege (aus dem Französischen von Neuberth, 2 Bde., Hildburgh. und Lpz. 1851); Hornung, Neue Geheimnisse des Tags (Lpz. 1857); M. Eliphas Levi, La scienze des espirits (Par. 1865); Epp, Seelenkunde (Mannh. 1866). - In England wurde der S. zuerst durch eine Mistreß Hayden 1852 eingeführt und durch Home weiter verbreitet. Selbst namhafte Naturforscher traten hier für den S. in die Schranken, so A. R. Wallace (s. d.) und der Chemiker Crookes. In Deutschland wurde neuerdings hauptsächlich durch Slade das Interesse für den S. erweckt, der insbesondere an dem Astrophysiker F. Zöllner einen begeisterten Anhänger fand. Doch wirkten schon vorher Aksakow, Perty u. a. insbesondere litterarisch.

Dem S., soweit er nicht reiner Humbug ist, liegt im wesentlichen die Anschauung zu Grunde, daß der Geist ein vollständiges existenzfähiges Wesen sei, das beim Tode (wie auch im Leben gelegentlich) den Körper verläßt und fortbesteht und daß solche vollständig gewordene Geister (Spirits) uns umgeben. Im Leben sind sie durch das Perisprit (eine ätherartige Substanz) an den Körper gebunden. Letzteres durchdringt den ganzen Körper und wird von manchen Personen im Überfluß besessen, so daß dieselben befähigt sind, andere oder frei gewordene Geister zu binden, sie zu materialisieren. Derartig besonders begabte Individuen heißen Medien. Durch Vermittelung derselben kommt es zu "mediumistischen" Kundgebungen, zu Manifestationen der Geister. Letztere werden entweder sichtbar und auch photographierbar ("Geisterphotographien", ein besonders in Amerika schwunghaft betriebener Humbug), oder hörbar, indem sie sprechen, klopfen (Klopfmedien), oder sie sprechen durch den Mund von Medien, oder sie lenken die Hände von Medien so, daß diese Inspiriertes niederschreiben (Schreibmedien, die sich in der Neuzeit meist des von Dr. Hare erfundenen Psychographen bedienen, einer Platte mit einem horizontal beweglichen Zeiger, der mit der Spitze auf einen eingeteilten Halbkreis weist und sich bewegt, sobald er am andern Ende berührt wird). Auch können gewisse Geister direkt (ohne Medium) schreiben, wie sie auch Fußstapfen hinterlassen auf berußten Tafeln, in Gipsplatten u. s. w. Von weitern "Leistungen" der Geister ist zu erwähnen das Spielen musikalischer Instrumente (die dabei gelegentlich sich im Zimmer herumbewegen, "fliegen", z. B. Harmonikas), das Entfesseln gebundener Medien (Davenport Boys aus Buffalo), Knotenknüpfen innerhalb geschlossener Schnüre, Ineinanderstecken geschlossener Ringe, Bewegungen von Tischen, Zertrümmern von Möbeln. Meist gelingen die Manifestationen nur unter gewissen Bedingungen, wie Dunkelheit, Vereinigung der Zuschauer in einen geschlossenen Kreis, event. Einschüchterung durch auffallende Maßnahmen.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es sich bei den genannten "mediumistischen" Manifestationen um Vorgänge handelt, die auch auf durchaus natürlichem Wege zu stande kommen können. Die betreffenden Medien besitzen einesteils eine große Kunstfertigkeit in gewissen Bewegungen, vielleicht zum Teil unter Beihilfe ungewöhnlicher Organisationsverhältnisse der Muskulatur, so daß sie Bewegungen rasch und mit Kraft (hörbar) ausführen können, die andere gar nicht oder nur schwach zu vollbringen vermögen (z. B. die Füße vollständig wie Hände gebrauchen), andernteils verwerten sie geschickt gewisse psychol. Kunstgriffe, indem sie die Zuschauer verhindern, ihre Aufmerksamkeit im gegebenen Moment auf die Maßnahmen des Mediums zu richten, was auch aus den antispiritistischen Enthüllungen früherer Medien, z. B. Home, und aus der wiederholt gelungenen Entlarvung (z. B. durch Erzherzog Johann von Österreich) der Betrüger klar hervorgeht. Nur dadurch, daß man irrtümlicherweise den soeben geschilderten S. mit Erscheinungen ganz anderer Natur in Verbindung brachte, konnte der Schein entstehen, daß man es thatsächlich mit übernatürlichen neuen Phänomenen zu thun habe. Hier ist vor allem die Verquickung des Somnambulismus mit dem S. zu nennen, die nur insofern sich berühren, als auch unter den Somnambulen sich zahlreiche Betrüger befinden. Die thatsächlichen Erscheinungen des Somnambulismus (s. d.) gehören, soweit es sich um den Rapport mit dem Jenseits handelt, in das Gebiet der deliranten Zustände (s. Delirium). Im übrigen beweisen dieselben keineswegs die Unabhängigkeit (Lösbarkeit) des Geistes vom Körper, wie auch die gesteigerte Sensitivität der Somnambulen keineswegs zu übersinnlichen Leistungen führt (der Geruch des Hundes, der Ortssinn der Vögel stehen auch weit über den Leistungen der Somnambulen). Es ist deshalb auch ungerechtfertigt, Reichenbachs Lehre vom Od (s. d.), Braids hypnotische Versuche u. a. m. in Zusammenhang mit dem modernen S. zu bringen. Daß uns noch zahlreiche Eigenschaften der Materie unbekannt sind, daß wir die seelischen Erscheinungen wie die Funktionen des Nervensystems noch sehr unvollkommen kennen und in diesen Beziehungen noch auf manche Überraschungen gefaßt sein müssen, ist zweifellos. Daraus folgt indes keineswegs, daß Crookes "strahlende Materie" und "vierter Aggregatzustand", Zöllners Spekulationen über vierdimensionale Wesen wissenschaftliche Beweise spiritistischer Anschauungen sind. (S. Occultismus.)

Aus der reichhaltigen Litteratur über den S. sind hervorzuheben: James Braid, Neurypnology, or the rationale of nervous sleep considered in relation with animal magnetism (Lond. 1813); Table-turning and table-talking (ebd. 1853); Godfrey, Table-moving tested and proved to be the result of satanic agency (ebd. 1853); Table-turning, the devil's modern master-piece (ebd. 1853); Gillson, Table-talking, disclosures of satanic wonders and prophetic signs (ebd. 1853); Howilt, The history of the supernatural (2 Bde., ebd. 1863); Owen, Footfalls on the boundary of another world (ebd. 1860 u. ö.); ders., The debatable land between this world and the next (ebd. 1870; deutsch Lpz. 1875); Hare, Experimental investigations of the spirit manifestations (Neuyork 1858; deutsch Lpz.