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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Arbeiterfrage (Arbeitsdauer)
noch nicht die Früchte getragen, die man glaubte erwarten zu dürfen. zu einer zweiten internationalen Arbeiterschutzkonferenz ist es noch nicht gekommen, obgleich die Schweiz im Jan. 1895 zur Einberufung einer solchen einen Anlauf nahm. Der Gesichtspunkt, von dem ans die Schweiz sich dafür interessierte, war, eine Einschränkung der Arbeitszeit zu erlangen, da in ihr der Grundsatz des Normalarbeitstages sich siegreich behauptet, aber inmitten des durch die Schutzzollpolitik verschärften Industriekampfes der Nationen nicht auf alle schweiz. Gewerbe ausdehnbar ist. Gelänge es der Schweiz hinsichtlich einiger Punkte der Arbeitszeit zu Abmachungen mit auswärtigen Staaten zu kommen, so würde die Forderung des zehnstündigen Normalarbeitstages nicht mehr im Hinblick auf die Konkurrenzfähigkeit der schweiz. Industrien angefochten werden.
Arbeitsdauer. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitszeit beträgt in Deutschland gegenwärtig in den meisten Betrieben 11 Stunden; eine geringere Arbeitszeit, 10 Stunden und weniger, ist im Bergbau und in der Metallindustrie sowie bei vielen Handwerkern üblich; die längste A., über 12 Stunden und weit mehr, findet sich in kleinen Mühlen und Sägewerken, in Ziegeleien, Brauereien, Brennereien u. s. w.; hier wird sie mit Rücksicht auf möglichste Ausnutzung unberechenbarer elementarer Kräfte (Wind und Wasser) und wegen des unregelmäßigen Eingehens des Rohmaterials öfters ungebührlich verlängert. In andern Fällen dehnt der Arbeiter selbst, bei Vereinbarung auf Accordlohn oder bei Gestattung von Überstunden, seine Arbeitszeit aus, um einen höhern Lohn zu erzielen. Beispiele extremer Dauer finden sich sehr zahlreich in den "Amtlichen Mitteilungen aus den Jahresberichten der mit Beaufsichtigung der Fabriken betrauten Beamten" (Berl. 1886 fg.). übermäßig lange Arbeitszeit zieht eine Reihe von schweren Schädigungen für den Arbeiter nach sich. Es ist ein allgemeines physiol. Gesetz, daß bei Überschreitung eines bestimmten Maßes der (dem Körper an sich nur zuträglichen) Thätigkeit eines Organs nicht mehr nach der normalen Ruhepause vollständige Erholung eintritt, sondern eine gewisse Schädigung des Körpers durch die übermäßige Ermüdung zurückbleibt, die nur nach unverhältnismäßig längerer Schonung ausgeglichen werden kann. Summieren sich aber diese Schädigungen dauernd, so entsteht eine bleibende Herabsetzung der Leistungsfähigkeit des Arbeiters, wie schon daraus hervorgeht, daß in einer Reihe von Betrieben mit Einführung einer verkürzten Arbeitszeit keineswegs eine Verminderung der Gesamtleistung festgestellt wurde; so hat man nach E. Roth (in der "Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege", Bd. 27, Braunschw. 1895, S. 277) in der Stahlfederfabrik von Heintze & Blanckertz in Berlin, in der Freeseschen Jalousiefabrik ebenda und in andern Betrieben mit der vor einigen Jahren erfolgten Einführung des achtstündigen Arbeitstags oder der achtstündigen Schichtarbeit nur günstige Erfahrungen gemacht. Im Gefolge dieser sich zunächst auf wirtschaftlichem Gebiete äußernden Herabsetzung der Leistungsfähigkeit durch zu lange Arbeitszeit gehen dann aber weiter eine Herabsetzung des allgemeinen Ernährungszustandes und Kräfteverfall, die sich, wie statistisch nachweisbar, in einer Verminderung der Tauglichkeit zum Militärdienst, in verminderter Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten und Verringerung der durchschnittlichen Lebensdauer zeigen. Außerdem hat eine übermäßige Ausdehnung der Arbeitszeit auch eine Vermehrung der Betriebsunfälle im Gefolge, die durch ein Nachlassen der Aufmerksamkeit des übermüdeten Arbeiters veranlaßt wird; durch statist. Erhebungen des Deutschen Reichsversicherungsamtes hat sich in der That herausgestellt, daß sich die Unfälle in den spätern Arbeitsstunden gegenüber den in den frühern häufen. Zu allen diesen Übelständen kommt schließlich noch unausbleiblich ein Verfall des Familienlebens. Die Wichtigkeit des Gegenstandes hat schon mehrfach eine Behandlung auf internationalen hygieinischen Kongressen bewirkt und gesetzliche Verbote einer allzulangen Arbeitszeit veranlaßt.
In Deutschland ist durch die Novelle von 1891 ein Maximalarbeitstag für die erwachsenen weiblichen Arbeiter eingeführt worden. Derselbe ist auf 11 Stunden festgesetzt und außerdem vorgesehen worden, daß zwischen den Arbeitsstunden eine mindestens einstündige Mittagspause gewährt wird, die für Arbeiterinnen, die ein Hauswesen zu besorgen haben, auf deren Antrag auf mindestens 1½ Stunden ausgedehnt werden kann. Ferner können durch Beschluß des Bundesrates für solche Gewerbe, in denen durch übermäßige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen täglichen Arbeitszeit vorgeschrieben werden. Die Erhebungen, die auf Grund der Beschränkung der Arbeitszeit der Arbeiterinnen von den Fabrikinspektoren gemacht sind, lauten im ganzen entschieden befriedigend. Zum Teil ist auch die Arbeitszeit der Arbeiter günstig beeinflußt worden, sofern in Betrieben, wo beide Geschlechter beschäftigt werden, am Sonnabend meist schon um 5 1/2 Uhr Feierabend gemacht wird. Stellenweise soll allerdings durch die Verkürzung der Arbeitszeit eine zahlreichere Beschäftigung von Arbeiterinnen in der Hausindustrie veranlaßt sein. über die wirkliche Dauer der Arbeitszeit ist man durch die Berichte der Fabrikinspektoren und neuerdings durch die Untersuchungen der Kommission für Arbeiterstatistik in einzelnen Gewerbszweigen unterrichtet. Während aus den erstern erhellt, daß in der Mehrzahl der Betriebe der elfstündige Arbeitstag nicht überschritten wird, haben die letztern, die die Arbeitszeit für Bäcker und Konditoren, für Kellner, Handlungsgehilfen und Getreidemüller ermittelten, für das Bäcker- und Konditorgewerbe zu einer Verordnung des Bundesrats vom 4. März 1896 geführt, durch welche die Arbeitszeit gesetzlich normiert wird (s. Bäcker). Eine Regelung der Arbeitszeit im Handelsgewerbe ist gleichfalls in Aussicht genommen.
In Österreich werden über die Durchführung des Maximalarbeitstages lebhafte Klagen laut. Im Quartal Juli bis Sept. 1895 wurde z. B. in Niederösterreich 41 fabrikmäßigen Unternehmungen eine Verlängerung der täglichen Normalarbeitszeit zugestanden, und zwar 29 Unternehmungen täglich zwei Überstunden, 12 Unternehmungen je eine Überstunde. Schlimmer aber ist, daß höchstwahrscheinlich, wie die Gewerbeinspektoren selbst zugeben, viele Unternehmer fabrikmäßiger Betriebe ohne behördliche Bewilligung in Überstunden haben arbeiten lassen.
In Großbritannien, wo im allgemeinen eine Abnahme der wöchentlichen Arbeitszeit (z. B. in der Kohlenindustrie) beobachtet wird, und wo die Regelung der Frauen- und Kinderarbeit zu einer allgemeinen Beschränkung der Arbeitszeit geführt haben soll, herrschen doch nach der neuerlichen Auslassung eines angesehenen Fabrikanten wenig erfreu-^[folgende Seite]