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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Handwerkerfrage (Handwerkerkammern)
Webstuhlbauer, Wagenschlosser, Sensenschmiede u. a. m., die selbst in größeren und mittlern Städten nur vereinzelt angetroffen werden, können keine Innungen gebildet werden. Da konnte man sich nicht anders helfen, als indem man entweder territorial der Wirksamkeit der Innungen weitere Grenzen zieht, d. h. z.B. Kreis- oder gar Regierungsbezirksinnungen bildet, oder indem man den Grundsatz der reinen Fachinnung aufgiebt und zur Bildung von gemischten Innungen schreitet. Beide Auswege würden Notbehelfe sein, die von vornherein nicht fähig erscheinen, das zu leisten, was man von den Innungen erwartet. Die gemischte Innung steht dem Gedanken einer Korporation, die Berufsinteressen ihrer Mitglieder vertreten soll, recht fern, und bei Kreis- oder Regierungsbezirksinnungen kann von regelmäßigem Verkehr und richtig gepflegten persönlichen Beziehungen der Mitglieder kaum ernstlich die Rede sein.
Es fällt unter diesen Umstünden schwer, an die wohlthätige Wirkung des Zwangsmoments zu glauben. Man kann sich nicht denken, das; die zwangsweise Verbindung vieler einander widerstrebender Elemente größere Arbeitsfreudigkeit und mehr Aufopferung für Innungszwecke zu Tage treten lassen werde. Damit soll die Bedeutung der Association für viele kapitallose und an Bildung ungleiche Individuen nicht abgeschwächt werden. Nur scheint es für den Erfolg derselben notwendig, daß man in freier Selbstbestimmung zusammenkommt und sich ungefähr über die einzuschlagenden Wege klar ist.
Mehrfach beruft man sich in Deutschland auf das Beispiel Österreichs, wo bekanntlich Zwangsgenossenschaften bestehen in der Weise, daß jeder Handwerker, der sich selbständig niederläßt, TTTTT Mitglied der für sein Fach bestehenden Genossenschaft wird. Indes ist die Lage des Kleingewerbes dort keinenfalls besser als in Deutschland, und die neuerdings veröffentlichte Statistik über den Stand des Genossenschaftswesens erlaubt keine durchaus günstige Beurteilung. (S. Gewerbegenossenschaften.) Gerade die Fachgenossenschaften, bei welchen ein enger beruflicher Zusammenbang besteht, sind in der Minderzahl und bewegen sich in abnehmender Richtung, da noch im J. 1886 629 gegen 552 im J. 1894 solcher Genossenschaften bestanden.
Was nun diese Genossenschaften zur Pflege der ihnen zugewiesenen humanitären und schiedsrichterlichen Aufgaben gethan haben, fällt ebenso wenig ins Gewicht wie bei den deutschen Innungen. Es haben 72 Proz. aller Genossenschaften noch keine Krankenkassen für Gehilfen. Lehrlingskrankenkassen sind nur für 7 Proz. (388) ins Leben gerufen worden. Man läßt sich eben an den Bezirkskrankenkassen genügen. Man mag das entschuldbar finden, weil ja niemand der Versicherungspflicht entgehen kann. Jedenfalls aber wenig befriedigend ist es, daß nicht viel über die Hälfte aller Genossenschaften l60 Proz.) sich entschlossen bat, schiedsgerichtliche Ausschüsse zu begründen. Gesellenherbergen, die die Arbeitsvermittelung besorgen sotten, giebt es nur 399, Meisterkrankenkassen nur 42 und außerdem 23 Unterstützungsvereine verschiedenen Charakters, Fach- und Fortbildungsschulen 122. Endlich ist charakteristisch, daß auch bei den österr. Genossenschaften wie bei den deutschen Innungen die Aufforderung, durch Eröffnung von Vorschußkassen, Rohstofflagern, Verkaufsstellen u. s. w. die Interessen ihrer Mitglieder zu fördern, sehr wenig gefruchtet hat. Es ergiebt sich daraus, daß der Zwang an sich nicht zu helfen vermag, und daß weder mit noch ohne Zwang die Gewerbtreibenden so weit geführt werden, ihre Interessen in einer für sie wirklich nutzbringenden Weise wahrzunehmen, wenn sie nicht von selbst die Notwendigkeit erkannt haben.
Handwerkerkammern. Eine viel geringere Rolle spielen die Handwerkerkammern unter den Wünschen der.Handwerker. Allerdings handelt es sich um eine alte Forderung, die seit 1848 nicht wieder vom Programm verschwunden ist. Aber so, wie sie jetzt geplant werden, gefallen sie den Zunftfreunden doch nicht, und jedenfalls wollen sie sie nicht, ohne daß die Anordnung des Befähigungsnachweis und der Zwangsinnung vorausgegangen ist. Bezüglich der Streitfrage: Gewerbe- oder Handwerkerkammern, verlangt man die letztere Form, aber eine Vertretung lediglich des Kleingewerbes, völlig getrennt von den schon bestehenden ähnlichen Organisationen. Der Berliner Innungstag von 1894 erkannte sie von zwei Gesichtspunkten aus an. Einmal sollten sie eine aus Handwerkerkreisen durch Wahl hervorgehende Aufsichtsbehörde der Innungen werden, zweitens aber hielt man sie für geeignet, die Stimme des Handwerks bei allen dasselbe betreffenden gesetzgeberischen Maßnahmen rechtzeitig und gebührend zur Geltung und Berücksichtigung zu bringen. Endlich hat man auch auf dem Halleschen Handwerkertage von 1895 erklärt, daß die Handwerkerkammern sich nur auf den Innungen aufbauen lassen, und diese die Grundlage der künftigen Organisation bilden müßten. Demgegenüber hat der Verband deutscher Gewerbevereine sich dahin ausgesprochen, daß Gewerbekammern zu errichten seien, zu denen im wesentlichen Gewerbetreibende, die nicht mehr als 20 Arbeiter beschäftigen, gehören sollen, und die sich an die schon bestehenden Organisationen der Industrie mit gleichen oder ähnlichen Zielen anschließen sollen.
Der preuß. Gesetzentwurf von 1893 sah die Handwerkerkammern in der That als eine höhere beaufsichtigende Instanz der projektierten Fachgenossenschaften vor, von deren Mitgliedern sie zu wählen waren. Die Kammern sollten für größere Betriebe errichtet werden, und ihre Aufgaben waren dahingehend gedacht, nächst der Beaufsichtigung des Herbergswesens bei der Durchführung der Arbeiterschutzgesetzgebung mitzuwirken, für Arbeitsnachweis Fürsorge zu treffen und Gutachten und Berichte über gewerbliche Fragen abzustatten. Im übrigen sollten sie Einrichtungen zum Besten des Kleingewerbes anordnen und sich um die Verbesserung der gewerblichen Zustände im allgemeinen verdient machen. Die Wahl zur Handwerkerkammer sollte auf sechs Jahre erfolgen, das Amt ein Ehrenamt sein, nur der Sekretär besoldet werden. Ein von der Landescentralbehörde bestimmter Kommissar, der die Rechte eines Mitgliedes jedoch ohne Stimmrecht genießen sollte, sollte in den Sitzungen anwesend sein. In der spätern Umarbeitung des Entwurfs, wie er der Handwerkerkonferenz von 1895 vorlag, sind die Grundzüge der neuen Institution nicht geändert, sondern nur genauer im einzelnen ausgeführt worden. Die Handwerkerkammer soll auf Grund eines von der obern Verwaltungsbehörde zu erlassenden Statuts errichtet werden. Sie wird bestehen ans einem geschäftsführenden Ausschuß, dem Vorstande, der zum Erlaß bestimmter Vorschriften berechtigt ist, und der Gesamtvertretung, der die Wahl der Mitglieder des Vorstandes und des Ausschusses, die Regelung der finanziellen An-^[folgende Seite]