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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Infektionskrankheiten

Die Verbreitung der Infektionserreger im lebenden Körper erfolgt teils in relativ langsamer Weise durch direktes Fortwachsen im Gewebe, wie in der künstlichen Kultur, teils, und dann häufig mit erschreckender Geschwindigkeit, auf dem Blut- und Lymphwege. Für die chirurg. Praxis enthält letzteres Verhalten die eindringliche Mahnung, infizierte Wunden so schnell als möglich zu desinfizieren, und erklärt zugleich, warum unter gewöhnlichen Verhältnissen, wo die Desinfektion naturgemäß immer eine Zeit auf sich warten läßt, öfters trotz nachträglich angewandter antiseptischer Maßnahmen doch die verderbliche Wirkung der eingedrungenen Erreger nicht verhindert werden kann.

Der Ausgang einer Infektionskrankheit ist entweder der Tod des befallenen Organismus oder die Vernichtung der eingedrungenen Infektionserreger und Unschädlichmachung ihrer Gifte, d. h. Heilung im weitesten Sinne des Wortes; freilich ist diese Heilung, bei der das Leben des Gesamtorganismus erhalten bleibt, durchaus nicht immer eine völlige Wiederherstellung des frühern Zustandes, zuweilen vielmehr mit dauernden Veränderungen oder gar mit dem völligen Verlust eines Organs oder Gliedes verbunden. Manchmal können auch nach vollendeter Heilung noch lebende Infektionserreger im Körper vorhanden, aber durch Abkapselung oder Deponierung in Lymphdrüsen unschädlich gemacht sein, wo sie zuweilen längere Zeit latent verharren, um dann langsam zu Grunde zu gehen oder auch unter veränderten Bedingungen selbst zum Ausgangspunkt einer neuen Infektion zu werden. Diese Ausnahmefälle berühren aber das Wesen des Verlaufs der I. keineswegs, welches stets als Kampf zwischen eingedrungenen Parasiten und befallenem Organismus aufzufassen ist. Von diesem Leitsatz muß die Theorie der I. ausgehen, und demnach sind zunächst gesondert die Kampfmittel der Mikroben und die Verteidigungswaffen des Organismus zu betrachten. In besonders drastischer Weise tritt die Idee eines Kampfes zwischen Mikroben und Tierkörper in der sog. Phagocytentheorie Metschnikows hervor (Phagocyten = Freßzellen, s. d., Bd. 7); die Thatsachen, die dieser geistreichen Hypothese zu Grunde liegen, sind unbestritten richtig und Schritt für Schritt durch klinische Beobachtung und pathol. Experiment sichergestellt. Ihre Deutung ist aber deshalb unrichtig, weil thatsächlich die Entscheidung des Kampfes meist schon gegeben ist, bevor die Phagocyten auf dem Kampfplatz erscheinen; die letztern nehmen meist nicht lebende, sondern schon abgetötete Bakterien auf, so daß die Rolle derselben, wenigstens in dem Sinne, wie Metschnikow wollte, eine ganz sekundäre ist; gerade in neuerer Zeit sind mächtige und rapid verlaufende bakterienvernichtende Wirkungen im Tierkörper beobachtet worden, die ganz ohne Mitwirkung der Phagocyten verlaufen. Es handelt sich daher bei dem Verteidigungskampf des lebenden Gewebes gegen die fremden Eindringlinge um die Wirkung löslicher bakterienfeindlicher Stoffe, wie dies insbesondere von Flügge und seinen Schülern, von Buchner, Kruse und Pfeiffer, nachgewiesen wurde (vgl. Kruse in Bd. 1 der "Mikroorganismen" von C. Flügge, 3. Aufl., Lpz. 1896). Der normale Organismus enthält in seinen Geweben und seiner Säftemasse stets eigentümliche bakterientötende Stoffe, von Buchner als Alexine bezeichnet; der Beweis für ihre Existenz liegt erstens in dem rapiden, häufig binnen wenigen Minuten bis Stunden erfolgenden Untergang, dem saprophytische Bakterien (solche, denen eine krankheitserregende Wirkung abgeht), selbst in großen Mengen injiziert, im Organismus verfallen, zweitens aber in dem eminent bakterientötenden Verhalten, welches auch das aus der Ader gelassene Blut im Reagensglase gegenüber eingebrachten Mikroben äußert; diese Alexine sind offenbar Eiweißkörper von hochkomplizierter und darum sehr labiler Struktur, so daß an ihre Isolierung bisher nicht zu denken gewesen ist; sie sind im Blutserum gelöst enthalten, durch Natriumsulfat fällbar, werden schon durch Einwirkung von Temperaturen von 55 bis 60° C. sowie durch starken Wasserzusatz vernichtet. Die Bildung der Alexine geht wahrscheinlich kontinuierlich von den Gewebszellen aus; die Leistungsfähigkeit des Gewebes steigt mit seinem Ernährungszustande, was mit der alten praktischen Erfahrung, daß ein kräftiger Organismus widerstandsfähiger gegen I. ist, als ein schwacher, durchaus übereinstimmt. Außerdem aber scheint die Infektion selbst als Reiz einzuwirken und eine erhöhte Produktion von Alexinen zu veranlassen, offenbar eine für den Körper sehr zweckmäßige Einrichtung. Wahrscheinlich beteiligen sich hierbei zuweilen die durch Chemotaxis (s. d.) angelockten weißen Blutkörperchen in hervorragender Weise, weshalb sie wohl auch als Alexocyten bezeichnet werden; in diesem Sinne, durch die Wirkung löslicher Sekretionsprodukte der weißen Blutkörperchen, könnte die frühere Metschnikowsche Phagocytentheorie in gewissen Fällen eine erneute Bedeutung gewinnen. Durch welches Mittel sind nun aber die pathogenen Bakterien befähigt, diesem vernichtenden Einfluß der Alexine Trotz zu bieten, im Tierkörper zu wuchern und ihre zerstörenden Eigenschaften zu entfalten? Man könnte an eine specifisch abweichende chem. Struktur ihrer Leibessubstanz denken, in welche die Alexine nicht einzugreifen vermögen, so daß es sich um eine Erscheinung handelt, ähnlich der Elektion bei der Gärung und Fermentwirkung; zutreffender ist es, mit Kruse die Existenz besonderer, nur den pathogenen Arten eigener Stoffe anzunehmen, welche die Alexine paralysieren, die Bakterien also zum Angriff befähigen und die demnach als Angriffsstoffe oder Lysine bezeichnet werden. Ob es den Bakterien gelingt, mit Hilfe ihrer Lysine die Alexine des Körpers zu überwinden, das hängt ganz von den quantitativen Verhältnissen dieser Wechselwirkung ab; bei ungenügender Menge des Virus oder zu geringem Virulenzgrade ist der kleine Vorrat von Lysinen bald erschöpft, und die Bakterien unterliegen dann, ihres Schutzmittels beraubt, der Übermacht der Alexine; dies ist der Vorgang der natürlichen Heilung. Ist es aber den Mikroben gelungen, sich gegenüber den Alexinen zu behaupten, so beginnen sie sogleich im Organismus zu wuchern und entfalten ihre lokalen und allgemeinen Wirkungen durch Gifte. Die Bakteriengifte sind, im Gegensatz zu den bisher ganz unzugänglichen Lysinen, ziemlich genau bekannt, und bis zu einem gewissen Grade ist sogar schon ihre Isolierung gelungen. Unter ihnen sind mehrere Gruppen zu unterscheiden. Die am längsten bekannten, durch Brieger rein dargestellten Ptomaïne, d. h. Gifte von basischem Charakter, alkaloidähnlicher Zusammensetzung und Wirkung, wie Neurin, Muskarin u. s. w., sind wohl nur als künstliche Spaltungsprodukte komplizierterer Giftstoffe anzusehen und kommen bei den hier zu besprechenden Giftwir-^[folgende Seite]